Ein Polizist und Zollbeamte stehen während einer Razzia vor einem Gebäude (Archivbild).
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Die Gewalt gegen Polizeibeamte ist nach Angaben des bayerischen Innenministeriums im vergangenen Jahr leicht gestiegen (Symbolbild).

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Wer hinter den Angriffen auf Polizisten stecken soll

Wer hinter den Angriffen auf Polizisten stecken soll

Das bayerische Innenministerium sieht einen weiteren Anstieg der Gewalt gegen Polizisten. Experten sehen das "Lagebild", das dies belegen soll, allerdings kritisch. Wie aussagekräftig sind also Angaben, wie die zur Nationalität der Tatverdächtigen?

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Sie werden gestochen, gebissen, gewürgt und beschossen. Die Gewalt gegen Polizeibeamte ist nach Angaben des bayerischen Innenministeriums im vergangenen Jahr leicht gestiegen. So zählt das Ministerium in seinem "Lagebild 2023" (externer Link) insgesamt 7.913 Fälle, 35 mehr als im Vorjahr. Vor wenigen Tagen meldete auch das Bundeskriminalamt einen neuen Rekordwert bei Gewalttaten gegen Polizisten.

Unter anderem BR24-User "jobroome" forderte daraufhin mehr Informationen, vor allem auch zur Nationalität der Tatverdächtigen.

Tatverdächtige in Bayern: deutsch, männlich und betrunken

Bundesweit liegt eine solche Aufschlüsselung nicht vor. Für Bayern schon: Demnach sind die Verdächtigen in den meisten Fällen deutsch, männlich, erwachsen, polizeibekannt und betrunken.

Allerdings: Diese und andere Daten stammen aus der polizeilichen Kriminalstatistik (externer Link). Diese hat nach Meinung von Experten zahlreiche Schwachpunkte. Dass sie überhaupt verwendet wird, um die Kriminalitätsentwicklung oder Tätereigenschaften zu belegen, wird von Kriminologen regelmäßig kritisiert.

Im Video (Archiv): Kriminologie-Professor kritisiert Kriminalstatistik

 Kriminologie-Professor Müller
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Kriminologie-Professor Müller

Jeder zehnte Tatverdächtige ist ein Zuwanderer

6.441 Tatverdächtige zählte Bayerns Innenministerium im vergangenen Jahr. Fast 4.500 davon, und somit etwa 70 Prozent, sind Deutsche. Rund 2.000 gelten als Ausländer, darunter etwa jeder dritte – genauer: 644 Tatverdächtige – als Zuwanderer. Unter den Begriff Ausländer fallen in diesem Fall etwa Touristen, Geschäftsleute oder Grenzpendler. Unter Zuwanderern werden Asylbewerber, Flüchtlinge, illegal eingereiste, geduldete und andere Personen mit ungeklärter Bleibeperspektive verstanden.

Der Anteil nicht-deutscher Tatverdächtiger stieg damit 2023 um 3,5 Prozentpunkte an, der der Zuwanderer um 1,4 Prozentpunkte. Gleichzeitig hat die Zuwanderung nach Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Kriminologen sagen außerdem: Bei Straftaten, an denen Asylbewerber beteiligt sind, ist die Anzeigequote doppelt so hoch wie bei deutschen Staatsbürgern.

Nach Angaben des Innenministeriums handelt es sich bei den meisten nicht-deutschen Tatverdächtigen, die Gewalt auf Polizisten verübt haben sollen, um Polen. Es folgen Tatverdächtige aus der Türkei, Rumänien, Ukraine, Syrien, Afghanistan, Österreich, Irak, Italien und Kroatien. Danach, welche Art von Gewalt von den nicht-deutschen Tatverdächtigen ausgegangen sein soll, differenziert das Lagebild nicht.

Sind Widerstand und Beleidigung Gewalt?

An der Statistik gibt es daher auch Kritik. Denn zu den "hohen Fallzahlen" von Gewalt gegen Polizisten zählt das Innenministerium auch Tausende Fälle von Widerstand oder Beleidigung. Letzteres ist mit mehr als 2.500 Fällen der größte Posten. Zieht man diese Fälle ab, schrumpft die Gewaltstatistik von 8.000 auf 4.000 Fälle.

Professor Tobias Singelnstein ist Kriminologe an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er weist darauf hin, dass derlei Statistiken immer nur einen sehr kleinen Abschnitt der Realität abbilden. So handle es sich beim Lagebild um eine reine Anzeigenstatistik. Diese lasse den Polizisten einen Spielraum bei der Entscheidung, was sie als Gewalt empfinden. Der Experte spricht von vielen "sehr niedrigschwelligen Sachen, die bei einer Festnahmesituation sehr schnell passieren können".

So sieht das auch BR24-User "Pipipopo": "Eine Beleidigung durch einen Besoffenen, der nicht mal weiß, wie er selber heißt, ist eben nicht gleichzusetzen mit gezielten 'Angriffen' auf Vollzugsbeamte." Und "Passt_schon" kommentiert: "Stichwort: 'Widerstandshandlungen'. Da fällt z. B. auch drunter, wenn sich jemand gegen seine Festnahme wehrt, indem er sich an einem Gegenstand festhält, und auch so manches Andere, was man im Alltag nicht unbedingt als 'Gewalt' definieren würde."

Experte: Polizei verwendet problematischen Gewaltbegriff

Kriminologe Singelnstein bezeichnet es als "hochproblematisch", dass unter dem Begriff Gewalt ein so weites Feld von Delikten erfasst werde, die zum Teil nichts oder nur sehr am Rande mit Gewalt zu tun hätten. "Die Menschen denken, dass alles immer schlimmer wird, dass vor allem schwere Delikte besonders häufig sind und dauernd zunehmen, obwohl die Statistik in den vergangenen Jahren genau das Gegenteil zeigt", sagt Singelnstein. So spricht auch das Ministerium von einem "großen Problem".

Das Lagebild sei daher eine selbsterfüllende Prophezeiung: Je mehr die Gewalt gegen Polizisten als Problem wahrgenommen wird, desto eher würden Polizisten Anzeigen in Fällen stellen, in denen sie das früher nicht gemacht hätten. Zudem handle sich um "aufgeladene, hochkomplexe Interaktionsgeschehen" – und wer sich nicht auch das Handeln der Beamten genau ansehe, sehe nur die Hälfte. Zu guter Letzt lasse das Lagebild offen, wie viele der Tatverdächtigen vor Gericht zu Tätern werden.

3.050 Polizisten in Bayern verletzt

Im Ministerium heißt es dazu, das Landeskriminalamt helfe den Polizisten bei der Einschätzung, welche Vorfälle gemeldet werden sollen. Aussagen darüber, wie oft Tatverdächtige verurteilt werden, gestalteten sich schwierig. Grund ist der oft jahrelange Verhandlungsverzug. So ließe sich nur ein Teil der Tatverdächtigen aus dem Lagebericht 2023 auch in der Verurteiltenstatistik des Justizministeriums für das gleiche Jahr wiederfinden.

Im Lagebild würden zudem alle Delikte transparent gemacht. Jeder könne sehen, welche Art von Gewalt welchen Stellenwert einnimmt. Ersichtlich sei dabei auch, dass die Zahl der im Einsatz verletzten Polizisten "besorgniserregend" ansteige. Die Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr auf 3.050 Fälle angestiegen – eine Zunahme um fast drei Prozent.

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