Gut zehn dicke Ordner stehen hinter Helena Schoppel im Regal. Alle sorgfältig beschriftet: Öffentliches Recht, Strafrecht, Zivilrecht, Verwaltungsrecht. Obendrauf steht eine Bronzefigur der Justitia – ein Geschenk von ihrem Opa. Ansonsten steht nicht viel offen herum in ihrem WG-Zimmer in der Nähe von Würzburg. Auch auf dem Schreibtisch liegt neben der dicken Gesetzessammlung nur die nächste Karteikarte zum Lernen bereit. Helena Schoppel bereitet sich gerade auf das Erste Juristische Staatsexamen vor. Für sie vielleicht eine etwas größere Herausforderung als für so manch anderen Jurastudenten, denn: Helena Schoppel hat ADS - eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung.
Exakter Lernplan ist alternativlos
"Ich weiß ganz genau, von wann bis wann am Tag ich lerne. Zusätzlich lerne mit der Pomodori-Methode, also ich lerne 25 Minuten und mache dann fünf Minuten Pause", sagt die 24-jährige Jurastudentin. "Eigentlich sind das so klassische Lernstrategien, die jeder anwenden kann, aber ich kann es mir ohne überhaupt nicht vorstellen."
Chaos oder Ordnung – sie kennt keinen Mittelweg
Struktur ist für Helena Schoppel essentiell. Denn wegen ihrer Aufmerksamkeitsdefizit-Störung kann sie sich nicht so gut und lange am Stück konzentrieren. "Ich bin entweder komplett strukturiert oder komplett chaotisch. Ein Zwischending ist schwer zu finden. Und wenn mal was nicht geplant ist, merke ich, wie mich das belastet. Weil ich dann nicht weiß: Was muss ich tun und wann – es gibt da keinen Mittelweg bei mir."
Informationsstelle an der Uni berät Studierende wie Helena
Die Diagnose ADS hat Helena schon in der Schule bekommen. Mit Ergotherapie hat sie ihr Chaos etwas in den Griff bekommen – im Jurastudium allerdings kam sie auch mit der besten Struktur und Lernmethode nach einigen Semestern an ihre Grenzen. Deshalb hat sie sich bei der Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung beraten lassen.
Etwa 400 Studierende kommen hier pro Jahr zur Beratung, sagt eine der Mitarbeiterinnen Nele Hallemann: "Es geht darum, die behinderungsbedingten Nachteile im Studium auszugleichen, also zu schauen: Wo liegen die Schwierigkeiten? Wir versuchen zusammen mit den Studierenden die Bedarfe zu identifizieren und so viel Chancengleichheit wie möglich zu erreichen."
Datenerhebung: ein Zehntel der Studierenden mit Beeinträchtigung
Laut einer Erhebung des Deutschen Studentenwerks haben elf Prozent aller Studierenden in Deutschland eine studienerschwerende Beeinträchtigung – sechs Prozent von ihnen weisen eine ADHS oder ADS auf. Aus ihrer Erfahrung in der Beratung beobachtet Nele Hallemann sogar, dass die Zahl der Studierenden mit ADHS, Depressionen und Angststörungen zunimmt.
Nachteilsausgleich nach Beratung und mit Attest
Genauso studieren können wie die Kommilitonen – das soll trotzdem möglich gemacht werden. Deshalb gibt es den Nachteilsausgleich: Für Studierende mit ADHS kann etwa ein separater Raum helfen oder eine längere Bearbeitungszeit. Den Nachteilsausgleich gibt es aber nicht einfach so. Entscheidend ist die Diagnose vom Psychiater.
Solche Gutachten erstellt zum Beispiel Dr. Marcel Romanos, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Würzburg. "Das ist eine lange Liste, die wir abfragen und abprüfen. Wichtig ist der Verlauf. Wann ist das Problem erstmalig aufgetreten, wie hat es sich entwickelt? Menschen mit ADHS können auch depressiv werden. Da ist es wichtig zu schauen: Was kam zuerst, Henne oder Ei?"
Bei ADHS: Kein Nachteilsausgleich fürs Staatsexamen
Auch Helena Schoppel hat vor zwei Jahren ein solches Attest bekommen und damit den Nachteilsausgleich für Klausuren im Rahmen ihres Studiums erhalten. Jetzt allerdings steht das Erste Juristische Staatsexamen vor der Tür. Hier musste sie einen separaten Antrag stellen, beim Justizprüfungsamt – zurück kam eine Absage. "In dem Brief steht, dass man den Nachteilsausgleich nur dann bekommt, soweit die Behinderung nicht das 'abgeprüfte Leistungsbild' betrifft." Und das ist eben, konzentriert einen Sachverhalt analysieren und eine Gliederung erstellen – "Das sind ja Probleme, die ich habe. Und weil die Kern der Prüfung sind, bekomme ich keinen Ausgleich."
Justizprüfungsamt: "fokussiertes Arbeiten unter Beweis stellen"
Auf Nachfrage bestätigt das Justizprüfungsamt dieses Vorgehen. "Nicht ausgleichsfähig sind Erkrankungen, durch die [...] die geistige Leistungsfähigkeit des Prüfungsteilnehmers selbst dauerhaft beeinträchtigt ist. Das ist z. B. dann der Fall, wenn das Beschwerdebild gerade darin besteht, dass ein Prüfungsteilnehmer aufgrund von Konzentrationsschwierigkeiten und einer Beeinträchtigung seiner Aufmerksamkeit nicht dazu in der Lage ist, die Fähigkeit eines derart fokussierten Arbeitens unter Beweis zu stellen."
Nur ein Bruchteil beantragt beim Examen den Nachteilsausgleich
Beim letzten Termin des Juristischen Staatsexamens Anfang des Jahres haben gut 1.300 Studierende die Prüfung abgelegt – nur 48 Anträge auf Nachteilsausgleich waren im Voraus gestellt worden. Davon wurde nur einer abgelehnt. Studierende mit ADHS bekommen den Ausgleich grundsätzlich nicht gewährt. Für Helena war das aber erstmal ein Schock. "Dadurch, dass ich ihn in der Uni bekommen habe, war ich fest davon überzeugt. Als der Brief ankam, war das schon sehr frustrierend. Aber man muss weitermachen, wird schon."
Kombination von Verhaltenstherapie und Ritalin
Zumindest auf ihre Lernroutine und Struktur ist Verlass. Durch die Krankheit habe sie gelernt, sich einen Plan zu machen und vor allem sich daran zu halten. "Man darf nicht hinterfragen, sondern einfach machen. Nicht an dem Plan zweifeln. Dann geht das auch." Zusätzlich nimmt Helena seit kurzem Ritalin. Eine Strategie, die auch Dr. Marcel Romanos seinen Patientinnen und Patienten empfiehlt: "Es empfiehlt sich, an eine Kombination bei der Behandlung zu denken. Zum einen Strategien für das Leben und den Alltag. Auf der anderen Seite die biologische Komponente in Form von medikamentöser Unterstützung, damit ich das umsetzen kann, was ich möchte."
Dank Jurastudium mehr Struktur gelernt
Für Helena die optimale Lösung. Mittlerweile findet sie sogar, dass das Studium ganz gut zu ihrer Krankheit passt: "Ich wüsste nicht, ob ich mit einer Ausbildung zum Beispiel jemals so strukturiert geworden wäre – oder mich eben weiter einfach so durchgewurstelt hätte. Hat ja vorher einigermaßen funktioniert", sagt sie und schmunzelt. Experten sind sich deshalb sicher: ADHS muss ein erfolgreiches Studium keinesfalls ausschließen.
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