Die Nächte scheinen schier unendlich zu sein im Winter. Dazu kommt die Kälte mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Wenn es gut läuft. Wir wollen für das BR-Politikmagazin Kontrovers herausfinden, wie es jemandem ergeht, der wohnungs- oder sogar obdachlos ist. Allein in München, der reichsten Großstadt Deutschlands, gelten 8.021 Menschen als akut wohnungslos. Mit einem Selbstexperiment wollen wir – zumindest für eine Nacht - ihre Erfahrungen miterleben, draußen schlafen und mehr über das Leben von Wohnungslosen in München herausfinden.
Über 8.000 Wohnungslose in München
Von den mehr als 8.000 offiziell gemeldeten Wohnungslosen übernachten rund zwei Drittel in Einrichtungen der städtischen Sofortunterbringung oder in Einrichtungen der Sozialverbände. Doch die sind nicht immer zentral gelegen oder schnell erreichbar. Was macht also der Rest? Streetworker schätzen, dass mehr als eintausend der akut Wohnungslosen auf Münchens Straßen schlafen. Was für uns unvorstellbar erscheint, ist Realität und harter Alltag zugleich für viele von ihnen.
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Selbstversuch in Begleitung
Wir versuchen, Kontakt zu Wohnungslosen aufzunehmen. Nach einigen Stunden treffen wir auf Oli. Er ist wohnungslos - und er ist bereit, sich von uns begleiten zu lassen.
Normalerweise schlafe er in einer Unterführung. Auch für heute war das sein Plan. Aber er kann da gerade nicht mehr zum Übernachten hin, erzählt uns Oli: "Da ist jetzt irgendwie Baustelle. Finde mich nicht mehr zurecht." Der Schlafplatz, an dem er sich bislang sicher gefühlt hat, ist damit weggefallen. Auf uns macht es fast den Eindruck, als sei Oli etwas verloren in dieser großen Stadt. Heute ist für Oli die erste Nacht seit 20 Tagen zurück auf der Straße.
Oli erzählt uns, dass er in den letzten Wochen im Gefängnis war: Er wurde wegen Schwarzfahrens verhaftet, sagt er. Wir wollen wissen, wo er lieber schlafen würde, wenn er die Wahl hätte: Auf der Straße oder im Gefängnis? Seine Antwort allein gibt uns einen Eindruck, wie hart das Leben als Wohnungsloser zu sein scheint: "Gefängnis ist auf alle Fälle sicherer."
Obdachlos bei Frost: Olis kalte Winternacht
Alkohol: Laster und Anker
Als Oli wegen Schwarzfahrens verhaftet wurde, war er stark betrunken, erzählt er uns. Ein Laster, dass ihn schon lange begleitet, wie wir erfahren. Seit seiner Jugend trinkt er immer wieder, war immer der betrunkenste, schon in der Schule. Damals waren seine Eltern und Freunde besorgt um Oli, haben ihn gewarnt. Inzwischen sind sie nicht mehr in seinem Leben. Stattdessen warnen ihn Ärzte, dass er weniger trinken muss.
Doch auch heute hat er mit dem Gedanken gespielt, sich einige Biere zu holen. "Aber wenn ich jetzt wieder ein Bier trinke, dann ist mir so schnell wieder kalt. Da kann ich auch gleich Eiswürfel schlucken", sagt er, während er sich am heißen Kaffee aufwärmt, den wir ihm ausgegeben haben. Seit 20 Jahren schläft Oli inzwischen auf der Straße: "Platte machen" heißt das, erzählt er uns. Seine Tage verbringt er meist mit Betteln.
Heimweh: Ein wiederkehrendes Gefühl
Dabei hatte er einst – wie die meisten Wohnungslosen – ein anderes Leben in Aussicht. Eines, das auf die meisten von uns sicher einen geregelten und vielversprechenden Eindruck gemacht hätte. Oli stammt aus Villingen in Baden-Württemberg und hat sogar eine Ausbildung zum Maler abgeschlossen. Und statt auf der Straße hat er in seinem Bett geschlafen, hatte sogar eine Eigentumswohnung.
Doch so, wie Oli es uns erzählt, wurden die Verantwortung und auch der Druck irgendwann zu viel: "Und dann hat mich mein Vater laufend gestresst: Hast du deine Wohnung schon renoviert? Hast du deine Wohnung schon gestrichen? Und so weiter und so fort. Mir ging’s einfach nicht gut."
Es wuchs ihm alles über den Kopf. Er zog einen radikalen Schlussstrich: "Ich habe mal eines Tages meinem Vater die Schlüssel vor die Füße geschmissen, bin rausgegangen, hab die Tür zugeknallt und ab dem Tag war ich auf der Straße", erzählt er uns. Mittlerweile ist Olis Fluchtversuch aus dem Alltagsdruck 20 Jahre her. Aufgefangen hat ihn nur die Straße.
Schutzlose Nächte
Nur: Einfacher wurde es auch auf der Straße nicht. Stattdessen kamen andere Sorgen und Probleme dazu. Er erzählt uns von seiner Zeit in Frankfurt am Main. Dahin will der Wohnungslose nicht mehr zurück. Was ist passiert, wollen wir wissen. Oli erzählt von einer seiner schlimmsten Nächte auf Platte: "Da habe ich geschlafen - aber zum Glück den Schlafsack nicht zugemacht - und da haben sie meinen Schlafsack angefackelt. Ich konnte gerade noch so rausspringen."
Der Schock darüber hat bis heute Spuren hinterlassen. Immer wieder haben wir schon von solchen Angriffen auf Wohnungs- und Obdachlose gelesen. Mit jemandem zu sprechen, dem das widerfahren ist, verdeutlicht uns, wie real diese Gefahr für jemanden sein muss, der schutzlos und ausgeliefert ist. Und wir können jetzt umso besser verstehen, warum Oli lieber im Gefängnis schlafen würde als auf der Straße.
Die Straßen von München
Seit einigen Monaten ist Oli hier und findet: In München lebt es sich besser. Doch wo in der Stadt Übernachtungsmöglichkeiten und Notunterkünfte sind, weiß der Wohnungslose nicht genau. Ohne die Hilfsangebote muss er sich auf eigene Faust durchschlagen. Wir wollen erleben, was das bedeutet und auch die Nacht mit ihm verbringen. Gemeinsam machen wir uns auf die Suche nach einem Nachtlager. Einem Ort, an dem wir nicht vertrieben werden und der vor den eiskalten Temperaturen zumindest etwas schützt.
Der Eingang eines Kaufhauses werden wir fündig: hier scheint es ruhig und trocken genug, um die Nacht dort zu verbringen. Also packen wir wie Oli unseren Schlafsack aus und hoffen, dass uns der zumindest etwas aufwärmt. Inzwischen sind wir schon einige Stunden draußen und sehr durchgefroren.
Wenn er sein Leben nochmal leben könnte, würde er einiges anders machen, erzählt Oli: "Wenn ich dann die Eigentumswohnung hätte, … würde ich mir auf alle Fälle mehr den Arsch aufreißen." Denn seine Tage haben keine Struktur mehr.
Abbruch für Oli
Doch plötzlich wird Oli still, reagiert kaum. Er hat einen Schwächeanfall. Nachdem wir uns vergewissert haben, dass es ihm bessergeht, entscheiden wir gemeinsam, das Gespräch fortzusetzen. Das Leben auf der Straße verlangt dem Wohnungslosen sichtbar viel ab. Dazu kommt die kalte Januarnacht: Minus zwei Grad. Die Kälte setzt nicht nur uns, sondern vor allem Oli immer mehr zu.
Wir ziehen die Reißleine: Der wohnungslose Oli kann die Nacht in diesem Zustand nicht draußen verbringen. Wir rufen ihm ein Taxi und lassen ihn in eine Notunterkunft bringen. Oli nimmt das Angebot gerne an.
Unseren eigenen Selbstversuch führen wir trotzdem weiter. Wir wollen - zumindest für eine Nacht – versuchen nachzuempfinden, wie es Wohnungslosen wie Oli derzeit Nacht für Nacht gehen muss. Wir werden draußen schlafen in dieser Nacht. Und sie wird uns an unsere Grenzen bringen.
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