Am 10. April 1972 herrscht Aufregung in der Münchner Innenstadt. 65 knapp bekleidete Frauen tummeln sich in der Zweigstraße, direkt neben dem Hauptbahnhof. Um sie herum stehen Polizisten und versperren den Eingang zu einem Haus. Bei dem Gebäude handelt es sich um das Eros-Center, besser bekannt als "Leierkasten", das berühmteste Bordell der Stadt. Die aufgeregten Frauen demonstrieren für "Bumsfreiheit", denn die, so scheint es, ist in München in Gefahr.
Olympia 72: Tausende Sexarbeiterinnen in München erwartet
Grund dafür sind die Olympischen Spiele, die im Sommer 1972 in München stattfinden. Die bayerische Landeshauptstadt erwartet mehr als 2,5 Millionen Besucher und rund 10.000 Prostituierte. Zum Vergleich: 2021 waren in München rund 1.000 Prostituierte registriert, zum Oktoberfest im Jahr 2019 rund 4.000 Sexarbeiterinnen in der Stadt.
10.000 aber im Sommer 72? Zu viele, findet der Münchner Stadtrat. Im März 1972 beschließt er einstimmig eine Sperrbezirksverordnung, die Prostitution in der Münchner Innenstadt verbietet. Das Oberwiesenfeld, auf dem das Olympia-Gelände liegt, wird schon zwei Jahre zuvor zum Sperrgebiet erklärt.
Münchner Behörden: Dem Laster keine Chance geben
Dabei, so betont die Polizei, wolle man nicht die Prostitution in München einengen, sondern verhindern, dass organisierte Verbrechen in der Landeshauptstadt Einzug halten. "Die Münchner Behörden und die Polizei wollten tunlichst vermeiden, dass sich ein ähnlich verdichtetes Rotlichtviertel bildet wie beispielsweise in Hamburg oder in Frankfurt", erklärt Stefanie Hall vom Münchner Stadtmuseum.
Für die Ausstellung München 72 hat sie sich mit der Sicherheitspolitik Münchens während der Olympischen Spiele beschäftigt. Um das Bild der heiteren Spiele zu wahren, habe die Polizei damals zu einer Reihe von präventiven Maßnahmen gegriffen, so Hall. "Es gab zum Beispiel ein Demonstrationsverbot in der Fußgängerzone und auf dem Oberwiesenfeld. Und auch ein vorab geplantes Beat-Festival wurde abgesagt, weil man Angst hatte, eine Invasion von obdachlosen Jugendlichen könnte die Grünflächen belagern."
"Puffalo Bill" möchte hart durchgreifen
Als die Polizei am 10. April 1972 den "Leierkasten" sowie drei weitere Freudenhäuser absperrt, kommt es zu Tumulten im Sperrbezirk. Von 19 bis 3 Uhr morgens stehen nun bis zu 40 Polizisten vor den Türen und bilden eine Art "Keuschheitsgürtel" zwischen den Frauen darin und der davor wartenden Menge.
"Die Sexarbeiterinnen machten sich auch einen Spaß aus der Aktion, es gab Stripvorstellungen vom Dach des Leierkastens, potenzielle Kunden wurden gelockt mit Rabattaktionen, wenn sie sich trauen die Absperrungen zu überschreiten", erzählt Hall. Kriminaldirektor Gustav Stogl jedoch möchte "die Damen aushungern", für sein Vorgehen erhält er in der Presse den ironischen Spitznamen "Puffalo Bill".
Studierende und Freier solidarisieren sich mit Sexarbeiterinnen
Drei Tage dauern die Demonstrationen an, Studierende und Freier gesellen sich zu den Frauen auf die Straße, ergreifen deren Initiative, halten Schilder in die Höhe und kämpfen für ihre "Mädchen". Das Spektakel rund um den sogenannten "Dirnenkrieg" sorgt auch außerhalb Bayerns für Aufsehen. "Die Zeit" schreibt am 21. April 1972: "Hunderte Neugierige und Schadenfrohe grölten in der kleinen Zweigstraße, während die Mädchen mit entblößtem Busen und schwarzer Reizunterwäsche Ringelreihen um die Ordnungshüter tanzten."
Der Besitzer des "Leierkastens", der Frankfurter Unternehmer Willi Schütz, zieht sogar vor Gericht, scheitert jedoch. Schließlich wird es ruhiger im Sperrbezirk, im Juni 1972 müssen die Bordelle endgültig das Feld räumen. Der "Leierkasten" zieht schließlich in die Ingolstädter Straße, in der das Bordell noch heute beheimatet ist.
97 Prozent des Stadtgebiets sind heute Sperrbezirk
Sechsmal wurde der Münchner Sperrbezirk inzwischen erweitert, zuletzt 2005. Jedes Mal, wenn Wohngebiete neu erschlossen werden, müssen die Sexarbeiterinnen weichen. Rund 97 Prozent der Stadt sind davon betroffen. Für Menschen in der Sexarbeit erschwere das die Arbeit in München, sagt Sabine Skutella von den Beratungsstellen Mimikry und Marikas, die Unterstützung für Menschen in der Prostitution bieten. "So eine Sperrbezirksverordnung wie in München, führt letztendlich zu einer künstlichen Verknappung von legalen Arbeitsmöglichkeiten", erklärt Skutella.
Monopolisierung fördert wirtschaftliche Ausbeutung von Sexarbeit
Denn legal arbeitet nur, wer außerhalb der Sperrzone seine Dienste anbietet. Dabei sind die Menschen, die in der Sexarbeit arbeiten, auf die Vermietung von Zimmern - meist in Bordellen - angewiesen. "So eine Sperrbezirksverordnung führt dazu, dass auch wirtschaftliche Ausbeutung dadurch gefördert wird, indem es eine Monopolisierung von Prostitutionsstätten gibt, die dann zum Beispiel auch Preise diktieren können," bemängelt Skutella. In den Augen der Sozialpädagogin ist unabhängige und selbstbestimmte Sexarbeit damit in München so gut wie unmöglich. "Es ist ja auch so, dass die Sperrbezirksverordnung im Grunde die Sexarbeit in abgelegene Gebiete verdrängt, wo die Arbeitsbedingungen manchmal auch wirklich gefährlich und menschenunwürdig sind," sagt sie.
"Skandal im Sperrbezirk" von der Spider Murphy Gang sorgt für Furore
Bekanntheit hat der Münchner Sperrbezirk schließlich durch den Nummer-1-Hit der Band Spider Murphy Gang erhalten. Acht Wochen lang stand er Anfang 1982 an der Spitze der deutschen Charts. Ob jung oder alt, die fiktive Prostituierte Rosi und ihre Nummer 32168 kennen die meisten Bayern, so mach einer kennt die Nummer vielleicht sogar besser als die der eigenen Eltern.
Dabei war "Skandal im Sperrbezirk" ein echter Spätzünder, bei vielen galt der Song als "schmutziges" Lied und wurde aufgrund des Themas nicht gespielt. Im Bayerischen Rundfunk habe es zwischenzeitlich sogar auf dem Index gestanden, erzählt Günther Sigl, Frontman der Spider Murphy Gang. Heute gilt das Lied als einer der größten Hits der Neuen Deutschen Welle und wird nicht nur in Bierzelten, sondern auch in bayerischen Radiosendern rauf und runter gespielt.
Olympia vergleichsweise ruhig
Die wahren Rosis jedoch mussten sich vor fünfzig Jahren geschlagen geben. Für Olympia 72 blieb es in München zumindest in Sachen Sexarbeit vergleichsweise ruhig - kein weiterer Skandal im Sperrbezirk.
- Zum Artikel: "BR-Themenschwerpunkt 'München '72 – Im Zeichen der Ringe'"
Wer mehr über die Olympischen Spiele in München erfahren möchte, kann sich gemeinsam mit dem Münchner Stadtmuseum auf Spurensuche begeben oder mit offenen Augen durch München laufen. Das Projekt "München 72" begibt sich direkt an die historischen Orte des Geschehens und klärt an verschiedenen Stationen über die Geschichte der Spiele auf.
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