"Sehr geehrte Kunden, in wenigen Minuten - um 19 Uhr - schließen wir heute zum letzten Mal unser Geschäft." Verkäufer Willi Holzapfel hat schon oft die letzte Ansage des Tages in der Münchner Kaut-Bullinger-Filiale durchgesagt. Heute ist es das letzte Mal überhaupt. Das Traditionskaufhaus verschwindet aus der Innenstadt: Kaut-Bullinger war fast 230 Jahre lang die Anlaufstation für Schreibwaren in München.
Die letzte Woche vor dem Aus
Wir haben den Verkäufer und seine Kollegen in der letzten Woche begleitet, bis zum Tag der Schließung der Kaut-Bullinger-Filiale in der Rosenstraße am 19. Februar. Willi Holzapfel hat fast sein ganzes Leben in dieser Filiale gearbeitet. Inzwischen ist er 60 Jahre alt. Als er als Lehrling anfing, war er gerade mal ein 15-jähriger Bub: "Ich bin da groß geworden, ich bin da aufgewachsen", sagt er.
Video: Kontrovers - Die Story: Traditionsladen schließt - Wir machen dicht!
Große Verluste im stationären Einzelhandel
Jahrzehntelang hat Holzapfel Kunden in der Technikabteilung beraten. In Zukunft will Kaut-Bullinger nur noch online handeln. Denn im Netz verdient das Unternehmen inzwischen mehr als im Laden - auch durch den Handel mit Großkunden. Eine schmerzliche Entwicklung, findet der 60-jährige Verkäufer. Die Beratung würden die Kunden zwar schon noch im Geschäft suchen, doch dann kaufen sie den Artikel übers Internet.
Allein seit 2010 hat sich der Umsatz im Online-Handel mehr als verdreifacht. Corona hat die Entwicklung noch mal verstärkt. Spür- und sichtbar ist dieser Trend auch in der Fußgängerzone. Immer wieder verschwinden Unternehmen und Geschäfte. Ein Quadratmeter Ladenfläche in bester Lage kostet in München im Schnitt 215 Euro Miete. Das können sich nur noch wenige Traditionsgeschäfte leisten.
Jetzt ist auch der letzte Kaut-Bullinger dran, hier in der Rosenstraße. Die Filiale gibt es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das Geschäft brummte Jahrzehntelang. Doch die guten alten Zeiten sind vorbei: Seit Jahren macht Kaut-Bullinger Millionenverluste im stationären Einzelhandel.
Veränderungen mit Wehmut
Die Folgen sehen wir, als wir Willi Holzapfel in den letzten Tagen durch die Filiale begleiten. Zwei Etagen sind schon leergeräumt. Wo sich früher Kunden durch die gut sortierten Regalreihen drängten, ist jetzt nur noch Leere: "Wenn Sie sich das jetzt hier ansehen, wie's aussieht - sicher macht's dich traurig", sagt Willi Holzapfel. Wie nimmt man nach einer so langen Zeit Abschied, von einem Ort, der sich nach Geborgenheit und Zuhause anfühlt?
Immerhin: Für Willi Holzapfel geht es bei Kaut-Bullinger weiter: mit einem Bürojob in der Zentrale in Taufkirchen. Doch die meisten seiner Kollegen werden ihren Job verlieren, wenn das Geschäft in wenigen Tagen schließt. Monika Forster ist eine von ihnen. Auch sie nimmt das Ende der Rosenstraße-Filiale sehr mit. Eine neue Stelle hat die 62-Jährige noch nicht in Aussicht, als wir mit ihr sprechen: "Ich hab schon öfter gehört, dass eben Leute in meinem Alter schwierig eine Arbeit finden. Weil meistens wollen's doch Jüngere haben. Und die Jüngste bin ich nimmer."
Ab jetzt nur noch Online-Handel
Hätte nicht vielleicht ein Standortwechsel, mit weniger Fläche, die Rettung sein können? Man habe lange versucht, die Filiale in der Rosenstraße zu erhalten, sagt uns Geschäftsführer Robert Brech. Den Wunsch kann er verstehen, aber: "Mit welcher Rechtfertigung wollen wir jetzt sagen: Wir gehen an einen anderen Platz, bei den gleichen Verhältnissen, mit den gleichen Belastungen – und dann wird's besser. Das ist Bauch, das ist Romantik und ich muss Ihnen sagen: Mit Romantik lässt sich kein Geschäftsmodell betreiben."
Kaut-Bullinger hat sein Geschäftsmodell radikal verändert: 2017 hatte das Unternehmen noch 11 Filialen, eine nach der anderen wurde geschlossen. Denn nicht nur die Zeiten, sondern auch der Markt selbst hat sich verändert. Online muss keine Miete gezahlt werden, die Personalkosten sind geringer. Wenn Kaut-Bullinger langfristig erfolgreich sein will, so sieht es die Geschäftsleitung, muss das Unternehmen mit der Zeit gehen.
Schlussverkauf lockt nochmal Kunden
Es ist der letzte Tag des Geschäfts in der Rosenstraße. 70 Prozent auf alles - das lockt noch einmal Kunden an. Die Kunden, die es in den vergangenen Jahren hier so dringend gebraucht hätte. "Kann man sich gar nicht vorstellen, dass wir dann am Montag nicht mehr aufsperren", sagt Willi Holzapfel. Viele Mitarbeiter tragen heute schwarz: "Wir trauern halt, weil’s mit dem Kaut-Bullinger zu Ende geht. Das ist für uns halt jetzt ein Abschied", sagt uns eine Mitarbeiterin. Heute, so wissen sie, stirbt ein Stück München. Manche stellen Grabkerzen auf, betrauern das Ende des Traditionsgeschäfts.
Die allerletzte Durchsage
Auch der 60-jährige Verkäufer Willi Holzapfel kämpft mit den Emotionen. Er soll die Kunden gleich mit einer Durchsage verabschieden – so wie sonst auch. Doch heute ist es ein Abschied für immer. Seine Worte hat er sich gut vorbereitet: "Nicht, dass ich dann komplett aus dem Text komme heute. Das ist mir zwar in 40 Jahren nicht passiert, aber wer weiß, wer weiß."
Und dann … die letzten Worte, die er hier an die Kunden richten wird.
"Sehr geehrte Kunden, in wenigen Minuten - um 19 Uhr - schließen wir heute zum letzten Mal unser Geschäft. Wir danken Ihnen für Ihren Einkauf und für Ihre jahrelange Treue. Die Geschäftsleitung und wir wünschen Ihnen alles erdenklich Gute – und natürlich auch unseren Mitarbeitern für die Zukunft alles, alles Gute. Vielen Dank für Ihren Einkauf. Auf Wiedersehen und bleiben Sie gesund.“
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