August 1946 in den Zillertaler Alpen: Schritt für Schritt kämpft sich eine Gruppe von rund 200 jüdischen Überlebenden der Shoah über den 2.634 Meter hohen, schneebedeckten Krimmler Tauern-Pass. Die Wanderer haben weder warme Kleidung noch feste Schuhe. Ein Mann trägt noch dazu ein Baby auf dem Rücken. Sie schaffen es über die Grenze nach Italien, dort besteigen sie ein Schiff, mit dem Namen: "The Unafraid" - "Die Unerschrockenen": Ein Schiff nach Palästina.
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Überlebende Juden lebten in DP-Lagern in Selbstverwaltung
Das Baby von damals heißt Hanna Weiss. Gerade ist sie für ein paar Tage in Bayern, auf den Spuren ihrer Vergangenheit. Gemeinsam mit einer ihrer Töchter, Gili.
Die beiden fahren von München nach Deggendorf. Dort ist Hanna geboren und hat das erste Lebensjahr verbracht. In einem abgezäunten Gelände, das die Amerikaner eingerichtet haben. Das rote Backsteingebäude am Stadtpark in Deggendorf war zuerst Heilanstalt, dann Kaserne und schließlich Unterkunft für Überlebende der Shoah. Hier lebten etwa 2.000 Juden in Selbstverwaltung. Sie hatten eine jüdische Kultusgemeinde, eigenes Geld, eigene Schulen, sogar eine eigene Presse.
DP-Lager wurden in Deutschland lange Zeit verdrängt
Lange Zeit waren die DP-Lager in der deutschen Erinnerung kaum mehr präsent, sagt Jim Tobias, der schon seit vielen Jahren zu dem Thema forscht. Vor vielen Jahren, erzählt er im BR, habe er ein Buch über das große zentrale DP-Camp für Kinder in Rosenheim geschrieben. In der örtlichen Zeitung habe er Artikel darüber geschrieben und gefragt, wer sich noch an das Lager erinnern könnte. "Das war mitten in der Stadt, in einer großen Kaserne in Rosenheim. Da sind Tausende von Kinder untergebracht worden. Das haben alle mitgekriegt. Das konnte man nicht verdrängen."
Auf seine Artikel bekam die Zeitung allerdings viele Anrufe und Briefe mit dem Tenor: "Was erzählt der Mensch da? Das hat es nie gegeben bei uns." Eine logische Reaktion, sagt Jim Tobias. Denn "wenn man diese DPs zur Kenntnis genommen hätte, dann hätte man sich fragen müssen: Wo kommen diese Menschen her? Das sind Waisenkinder - wo sind die Eltern geblieben? Also so funktionieren diese Verteidigungsmechanismen."
Jim Tobias konnte die Existenz des Kinderlagers in Rosenheim schnell beweisen. In Archiven in New York und Israel lagern Kisten voller Fotomaterial. In deutschen Archiven findet man dagegen kaum Unterlagen. Das liege daran, dass deutsche Behörden damit kaum befasst worden waren. Alles lief über die Vereinten Nationen, die amerikanische Militärregierung und über verschiedene jüdische Hilfsorganisationen. Außerdem etablierte sich eine Selbstverwaltung in den DP-Camps, bestätigt der Experte. "Das war ja dieses Privileg, auch sich selber zu regieren. Das muss man sich vorstellen, ja, wie eine Regierung mit diversen Ministerien."
Eltern haben Kindern selten von Konzentrationslagern erzählt
"Es war eine gute Zeit. Sie litten nicht und hatten keine Angst, dass sie vielleicht morgen ins Krematorium kommen", sagt Hanna Weiss. Sie ist heute 77 Jahre alt und lebt in Israel, im Dorf Kochav Yair, eine Autostunde nördlich von Tel Aviv entfernt. Wie sie aus dem DP-Lager Deggendorf ins heutige Israel gekommen ist, davon hat sie erst sehr spät erfahren, als erwachsene Frau. Auf der Suche nach ihrer Familiengeschichte.
Fast alle, die in Konzentrationslagern gewesen waren, hätten ihren Kindern nichts davon erzählt, sagt Hanna Weiss. "Sie glaubten, wir seien eine neue Generation, die nicht durchleiden müsste, was sie erleiden mussten. Deshalb haben sie nichts erzählt." Viele der Kinder der zweiten Generation suchten daher nach Spuren ihrer Eltern. "Wo waren sie ? Wo haben sie Verwandte?"
Baby-Boom in DP-Camps
Ihre Mutter Pola wurde in Vilnius geboren, ihr Vater David in Krakau. Beide wurden von den Nazis im Ghetto Wilna in der litauischen Hauptstadt interniert. Pola wurde dann ins KZ Stutthof Nahe Danzig deportiert. Dort musste sie Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie leisten. Vom Vater weiß man nichts.
Ihre Mutter wurde vor Kriegsende vom KZ Stutthof aus von den Nazis in den Todesmarsch geschickt, schwer erkrankt an Typhus, bevor sie von den sowjetischen Truppen befreit wurde. Pola machte sich dann selbst auf in die amerikanische Zone, nach Deggendorf. Dort lernte sie ihren Mann David kennen. Sie verliebten sich und heiraten bald darauf.
Im September 1946 kommt Hanna Weiss im DP-Camp Deggendorf zur Welt. Mit 72 Jahren, im Jahr 2018, reist sie erstmals an ihren Geburtsort Deggendorf, mit ihrem Mann Gershon. Im Stadtarchiv findet sie ihre Geburtsurkunde. Ausgestellt im Camp für "Displaced Persons" in Deggendorf. Von 1945 bis 1949 wurden dort insgesamt 225 Kinder geboren. "Das war ein Baby-Boom. Niemand hat vergessen, aber alle hatten ein Ziel: Gucken nach der Zukunft."
Zweite und dritte Generation erforschen Familiengeschichte
Mit dem Start im 1948 neu gegründeten Staat Israel wollten die Eltern von Hanna Weiss, das Ehepaar Würzberg, erstmal alles Schreckliche hinter sich lassen. Wohl deswegen erzählten sie ihrer Tochter nie selbst von ihrer Vergangenheit. Ihre Mutter Pola, die KZ-Überlebende, war schon 60 Jahre alt, als sie erstmals über den Holocaust redete – sie erzählte es ihren Enkeln. Ihre Tochter Hanna hat daher vieles auf Umwegen über ihre zwei Kinder erfahren.
Hanna selbst will das anders machen. Ihre zwei Kinder sollen ihre Familiengeschichte genau kennen. Deswegen hat sie zu ihrem Besuch in Deggendorf und München ihre Tochter Gili mitgenommen. "Unsere Geschichte ist in meiner DNA: Auch meine Töchter wissen davon. Sie fühlen sich als Teil davon."
Die 55- Jährige Gili hat auch schon die Lager Auschwitz und Birkenau besucht. Sie hat eine Ahnung davon, was ihre Großeltern erlitten haben. Sie erinnert sich genau: Als 18-Jährige hat ihre Mutter ihr alle Fragen nach der Vergangenheit beantwortet.
"Einerseits sind wir traumatisiert von den Erzählungen über den Holocaust, schreckliche Geschichten über die Ghettos, die Gaskammern, Konzentrationslager", sagt Gili. "Andererseits lebt mir meine Mutter vor, niemanden zu hassen. Wir konzentrieren uns also nicht auf das Leid." Sie ist Dozentin für Geschichte an Universität in Israel. Ihre Familiengeschichte hat bei ihr so viel Interesse ausgelöst, dass sie sich beruflich mit der Vergangenheit beschäftigt.
Hanna Weiss hat lange als Lehrerin und Schulleiterin gearbeitet. Seit ihrer Pensionierung erforscht sie noch intensiver die Geschichte ihrer Vorfahren. Es gibt für sie noch viele Leerstellen zu füllen, sagt die 76-Jährige. Deswegen ist sie heute auch im regen Austausch mit anderen DP-Babys. Außerdem besucht sie dieses Jahr das Treffen des Vereins "Alpine Peace Crossing" in Österreich, der an die Flucht Tausender Jüdinnen und Juden über die Alpen erinnert. Dort wird Hanna Weiss sogar die APC Friedensmedaille verliehen, für ihren Verdienst um die Erinnerungsarbeit.
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