"Wir hatten diesen freudigen Moment im Dezember, aber jetzt müssen wir uns wirklich auf unsere Hausaufgaben konzentrieren", sagt der EU-Kommissar für Umwelt, Ozeane und Fischerei, Virginijus Sinkevičius. Der 32-jährige EU-Politiker aus Litauen hat beim Weltnaturgipfel im Montreal als Verhandlungsführer für die Delegation der Europäischen Union fungiert und das Rahmenabkommen zum Erhalt der Biodiversität weltweit bis 2030 maßgeblich mitverhandelt. Die Vertragsstaaten hatten sich im Dezember auf 23 Ziele geeinigt, mit denen der weltweite Verlust von Artenvielfalt gestoppt werden soll.
Viele Ziele bereits in den EU-Strategien enthalten
Zu den "Hausaufgaben" gehört für EU-Kommissar Sinkevičius jetzt für die EU-Mitgliedstaaten die Strategien vorzugeben, wie das Abkommen von Montreal in der EU umgesetzt werden soll. Wichtig ist laut dem EU-Kommissar, das Abkommen nicht als Auswahlmenü zu betrachten: Die Regierungen dürften jetzt kein Rosinenpicken betreiben und sich nur auf die "low hanging fruits", also auf leicht erreichbare Ziele, konzentrieren. "Wir müssen das Abkommen als Ganzes umsetzen", sagt Sinkevičius BR24.
Heißt: Nicht nur einzelne Ziele wie zusätzliche Schutzgebiete, sondern das ganze Paket, inklusive Pestizide und Dünger reduzieren, Plastikverschmutzung stoppen, Natur renaturieren, umweltschädliche Subventionen abbauen und generell den Schutz der Biodiversität bei allen wichtigen politischen Entscheidungen mitdenken. Tatsächlich finden sich etliche der Ziele aus dem Abkommen von Montreal bereits so oder so ähnlich in den Strategien der EU, im Green Deal mit der Biodiversitäts- und der Farm-to-Fork Strategie oder dem Null-Schadstoff-Aktionsplan wieder. Seit Anfang des Jahres arbeitet die EU-Kommission laut Sinkevičius vor allem daran, zu überprüfen, inwieweit die Strategien die Zielvorgaben von Montreal bereits erfüllen oder noch nachgeschärft werden müssen.
30 Prozent Schutzgebiete in der EU: So viel Fläche fehlt noch
Teilweise sind die Ziele der EU sogar ambitionierter als das, was in Montreal festgelegt wurde. Zum Beispiel beim sogenannten 30x30-Ziel. 30 Prozent der Fläche an Land und in den Meeren soll weltweit unter Schutz gestellt werden. Die EU geht sogar noch weiter und will ein Drittel davon unter strengen Schutz stellen. Eine wirtschaftliche Nutzung wie etwa Fischerei oder Holzwirtschaft wäre in diesen Gebieten dann nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt möglich. Dafür fand sich in den Verhandlungen der UN-Biodiversitätskonferenz keine Mehrheit.
Dennoch müssen die EU-Mitgliedsstaaten dazu noch zusätzliche Gebiete schützen. Laut dem EU-Umweltkommissar stehen 26 Prozent der Flächen an Land unter Schutz. Es fehlen also nur noch vier Prozent zum Erreichen des Ziels. In den Meeresgebieten ist die Lücke größer: Elf Prozent der Fläche seien dort geschützt, 19 Prozent fehlen noch. Zum Vergleich: Weltweit müsste sich zum Erreichen des 30x30-Ziels die geschützte Fläche an Land verdoppeln und auf dem Meer vervierfachen.
EU-Kommissar Sinkevičius: Wir werden 30 Prozent schaffen
Bei den europäischen Meeresflächen werde es deshalb eine größere Herausforderung. Dennoch ist Sinkevičius sicher: „Wir werden definitiv das 30x30-Ziel erreichen, vor allem an Land. Wir werden es sogar früher schaffen.“ Das hieße also, noch vor 2030. Auf die Frage, wo die zusätzlichen Schutzgebiete entstehen sollen, will EU-Kommissar Sinkevičius keine konkreten Orte oder Mitgliedsstaaten nennen: „Ich würde mich auf große Ökosysteme konzentrieren, die den Schutz dringend brauchen. Ökosysteme, die besonders effektiv für den Klimaschutz CO2 speichern.“
Konflikte mit wirtschaftlicher Nutzung
Natürliche CO2-Speicher sind für Sinkevičius neben den Meeren vor allem Wälder und Moore. Besonders bei den streng geschützten Gebieten dürfte es dabei aber Zielkonflikte mit der wirtschaftlichen Nutzung der Natur geben – so zum Beispiel mit der Forstwirtschaft in den Wäldern. Der zuständige EU-Kommissar ist hier jedoch der Meinung, dass sich diese Konflikte mit guten Strategieplänen verhindern lassen. Noch etwas schwieriger dürfte das bei den Meeren werden: "Dort ist der Raum sehr begrenzt. Da müssen alle Aktivitäten unter einen Hut gebracht werden: Nachhaltiger Tourismus, nachhaltige Fischerei, Projekte für erneuerbare Energien", sagt Sinkevičius, der als Kommissar auch für die Fischerei in der EU zuständig ist.
Mehrere Punkte des Abkommens von Montreal betreffen auch die Fischerei: "Diese fordern uns auf, die Fischgründe und Aquakulturen nachhaltig zu managen, um Überfischung zu verhindern, damit wilde Arten nachhaltig genutzt werden. Trotzdem wird das globale Ziel von 30 Prozent Schutzgebieten natürlich nicht machbar sein, ohne ein ambitioniertes Abkommen für die Hohe See", sagt Sinkevičius.
20 Prozent der geschädigten Ökosysteme renaturieren
Ein weiteres wichtiges Ziel des globalen Rahmenabkommens zur Biodiversität ist, 20 Prozent der zerstörten Ökosysteme wiederherzustellen. In der EU sollten die Mitgliedsstaaten laut Sinkevičius vor allem auf die Ökosysteme schauen, die am stärksten gestört sind. "Da reden wir vor allem über die Moore und Feuchtgebiete, aber auch über unsere Wälder. Aber in unserer Gesetzgebung werden die Mitgliedsstaaten flexibel auswählen können, welche Ökosysteme sie renaturieren", sagt der EU-Kommissar.
In Deutschland und auch in Bayern wird die Wiedervernässung von Mooren wohl eine wichtige Rolle beim Erreichen der Biodiversitätsziele spielen.
Erfolg wird von der Umsetzung abhängen
Ob das Abkommen von Montreal den weltweiten Verlust von Biodiversität wirklich stoppen kann, wird letztlich nicht nur von den Zielvorgaben abhängen, sondern vor allem davon, wie konsequent diese von den Regierungen der einzelnen Staaten umgesetzt werden. So auch das Fazit von EU-Kommissar Virginijus Sinkevičius: "Also wenn es vollständig umgesetzt wird – dann geht es weit genug. Aber die Umsetzung wird der zentrale Knackpunkt sein."
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