In der aktuellen Krankheitswelle spitzt sich die Lage zu: Millionen Menschen in Deutschland leiden an Atemwegsinfektionen. Kliniken und Arztpraxen klagen über Engpässe bei einer Reihe von Medikamenten. Zuletzt gab es Lieferschwierigkeiten bei Kindermedikamenten wie Fieber- und Hustensäften. Auch Mittel für Erwachsene sind betroffen, etwa Antibiotika.
Bundesärztekammer für Pragmatismus in Krisenzeiten
Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, rief die Bevölkerung deshalb dazu auf, sich gegenseitig mit der Hausapotheke zu helfen. Angesichts der aktuellen Infektionswelle und wachsender Arzneimittelknappheit helfe nur Solidarität, sagte Reinhardt dem Berliner "Tagesspiegel" am Sonntag. "Wer gesund ist, muss vorrätige Arznei an Kranke abgeben. Wir brauchen so was wie Flohmärkte für Medikamente in der Nachbarschaft", sagte er dem Blatt.
Für solche Medikamenten-Flohmärkte könnten auch Arzneimittel infrage kommen, deren Haltbarkeitsdatum bereits einige Monate abgelaufen sei, sagte Reinhardt dem "Tagesspiegel" zufolge. In der Not könnten zahlreiche Medikamente immer noch gefahrlos verwendet werden. Weiter sagte er, es gehe auch darum, wieder zu lernen, "Krisenzeiten pragmatisch und standfest abzuwettern".
Bundesapothekerkammer: Arzneimittel gehören nicht auf Flohmarkt
Der Präsident der Bundesapothekerkammer, Thomas Benkert, reagierte auf den Vorstoß kritisch. "Arzneimittel gehören in Apotheken, nicht auf den Flohmarkt – schon gar keine abgelaufenen Arzneimittel", so Benkert auf Anfrage von BR24. "Verfallene Arzneimittel können die Gesundheit der Patientinnen und Patienten massiv gefährden, ganz abgesehen von haftungsrechtlichen Fragen." Auch stehe die Gesetzeslage dem klar entgegen.
Derzeit gebe es schlicht zu wenig Fiebersäfte. Die Apotheken stünden aktuell unter enormem Druck, das Fehlen von lebenswichtigen Arzneimitteln zu managen, so Benkert weiter.
Bayerischer Hausärzteverband: Lösungen über Apotheken
Die aktuelle Medikamentenknappheit gerade bei der Behandlung von fieberhaften Erkrankungen wirke sich auch auf den hausärztlichen Bereich aus, erklärte Wolfgang Ritter, Vorsitzender des Bayerischen Hausärzteverbandes gegenüber BR24. "Um die Versorgung der Bevölkerung sicher zu stellen, sind Lösungen erforderlich, die über die Apotheken geregelt werden. Hier brauchen wir kurzfristige Änderungen, damit Apothekerinnen und Apotheker auch auf Vorrat z.B. fiebersenkende Säfte herstellen können und nicht nur nach Vorlage eines entsprechenden Rezepts."
Verbraucher: Medikamente einfach weitergeben?
Dem Nachbarn eine Kopfschmerztablette geben, der Freundin einen "Fiebersaft" für das erkältete Kind – wie sinnvoll ist es, wenn Verbraucher sich gegenseitig mit Medikamenten aushelfen?
Der stellvertretende Vorsitzende des Bayerischen Apothekerverbands, Josef Kammermeier, verwies auf Anfrage von BR24 grundsätzlich darauf, dass die Abgabe von Arzneimitteln in die Hände von pharmazeutischem Fachpersonal gehöre. "Das betrifft sowohl rezeptpflichtige Arzneimittel, als auch rezeptfreie. Apothekerinnen und Apotheker haben ein langes und anspruchsvolles naturwissenschaftliches Studium absolviert, um Patienten ausführlich zu Risiken, Neben- und Wechselwirkungen beraten zu können."
Die nicht fachgerechte Einnahme von Medikamenten berge ein hohes Gefahrenpotenzial. In Deutschland würden jedes Jahr etwa fünf Prozent der Krankenhausaufnahmen durch Arzneimittel-Nebenwirkungen verursacht, fügte Kammermeier hinzu.
Rechtslage: Nachbarn mit Medikamenten "aushelfen"?
Auf Nachfrage von BR24 verweist die Bayerische Landesapothekerkammer (BLAK) darauf, dass es rechtliche Vorgaben für den Erwerb und die Abgabe von Arzneimitteln gebe. Diese seien klar im Arzneimittelgesetz (AMG) geregelt. "Dies ist unter dem Aspekt der Arzneimittelsicherheit, des Verbraucherschutzes und der Abwehr von Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung auch sinnvoll", heißt es von der Kammer.
Wenn sich etwa Nachbarn oder Bekannte gegenseitig mit Medikamenten "aushelfen", ergeben sich laut BLAK grundsätzlich dann auch haftungsrechtliche Fragen, wie etwa: Wer trägt die Verantwortung für Schäden, die durch die unsachgemäße Weitergabe entstehen?
Medizinrechtler: "nicht unproblematisch"
"Das Problem der Versorgung mit Arzneimitteln durch Dritte, etwa durch einen Trainer gegenüber einem Sportler, durch Berufskollegen oder durch Familienmitglieder ist nicht unproblematisch", erklärt Andreas Spickhoff, Professor am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Medizinrecht der LMU in München. "Entscheidend ist hier der Begriff des Inverkehrbringens", so Spickhoff. Sei das Arzneimittel rechtmäßig in den Verkehr gebracht, "so dass die Beschränkungen der Herstellungserlaubnis und der Zulassung nicht greifen, so steht der Weitergabe höchstens noch die Apothekenpflicht im Wege".
Angenommen, das Arzneimittel sei in der Apotheke besorgt und nur im Rahmen der Familie, einer Beziehung, in einem Sportverein usw. weitergegeben, so stehe dem arzneimittelrechtlich nichts im Wege. "Das kann man rechtspolitisch in Frage stellen. Immerhin muss das Medikament immer noch geeignet sein, die Gesundheit des Patienten ohne besondere Gefährdung zu fördern. Sonst greifen die Vorschriften des Straf- und Zivilrechts gegen Körperverletzung ein", ergänzte Spickhoff auf Anfrage von BR24.
Dürfen abgelaufene Medikamente weitergegeben werden?
Grundsätzlich gelte, dass Medikamente nach Ablauf des Verfalldatums nicht mehr angewendet werden sollen, sondern entsorgt werden, so die BLAK. "Verfalldaten auf Arzneimittelpackungen sind weit mehr als eine Empfehlung. Das unterscheidet sie vom Mindesthaltbarkeitsdatum auf Lebensmitteln." Die Angabe des Verfalldatums sei Teil der Zulassung des Arzneimittels und basiere auf umfangreichen experimentellen Daten des Herstellers. Die Relevanz und Verbindlichkeit dieser Angabe sei daran erkennbar, dass nach dem Arzneimittelgesetz ein Arzneimittel die Verkehrsfähigkeit verliere, wenn das Verfalldatum überschritten sei.
"Die Beurteilung von abgelaufenen Arzneimitteln ist selbst für Apotheker als Arzneimittelexperten in den meisten Fällen nur möglich nach chemischer Analyse oder Literaturrecherche zu möglichen Abbauprodukten", so die BLAK. Beides sei aufwändig und der Nutzen dürfte den Aufwand nur in Ausnahmefällen rechtfertigen. Verlässliche Angaben der Hersteller zu einer Nutzung von Medikamenten nach Ablauf des Verfalldatums gebe es nur in Ausnahmefällen.
Mit Informationen von dpa und AFP.
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