Ein 47-jähriger Mann hat am Montag vor einer Woche einen Verhandlungstermin am Landgericht Coburg dafür genutzt, um zu entkommen. Vor der Verhandlung befand sich der irakische Staatsangehörige in Untersuchungshaft. Am Tag darauf gelang es der Polizei, den Flüchtigen nach einem Hinweis aus der Bevölkerung wieder zu ergreifen.
Wie das gemeinsame Rechercheteam von Bayerischem Rundfunk und Nürnberger Nachrichten (NN) jetzt herausfand, wird der Mann, der relativ einfach aus dem Gerichtsgebäude fliehen konnte, von Behörden bereits seit längerer Zeit als "Verdachtsfall Islamist" eingestuft. Das erfuhr das Rechercheteam aus Sicherheitskreisen.
Demnach sei der Mann schon in der Vergangenheit entsprechend aufgefallen und wurde deshalb intern eingestuft. Die Bewertung als "Verdachtsfall Islamist" wirft damit neue Fragen in Bezug auf den Umgang mit Gefangenen auf. Und das sind deutlich mehr Fragen, als die, ob die Sicherheitsvorkehrungen für den Strafprozess am Coburger Landgericht deutlich größer hätten sein müssen.
Landgericht wusste nichts von Einstufung
Denn am Landgericht Coburg heißt es, man sei über die etwaige Gefahrenlage überhaupt nicht informiert gewesen. Richter Timm Hain betonte im Gespräch mit dem BR/NN-Rechercheteam, dass der Islamismus-Verdacht während der Verhandlung am Landgericht Coburg nicht bekannt gewesen sei: "Das Gericht war darüber nicht informiert."
Trotz der Anwesenheit zweier Polizeibeamter hatte der angeklagte Mann am vierten Tag der Hauptverhandlung aus dem Gerichtssaal der oberfränkischen Kreisstadt fliehen können. Ihm waren die Fußfesseln gelockert worden, weil er auf die Toilette gehen wollte. Der 47-Jährige hatte in Untersuchungshaft gesessen, da das Gericht wegen drohender Fluchtgefahr Haftbefehl erlassen hatte. Nun steht die Frage im Raum, wie ein mutmaßlicher Sexualstraftäter und ein als "Verdachtsfall Islamist" eingestufter Mann den Beamten entwischen konnte. Schließlich hätte von ihm auch eine Gefahr für die Bevölkerung ausgehen können.
Polizei will sich nicht äußern
Der 47-jährige, der mit seiner Frau und den sieben gemeinsamen Kindern schon mehrere Jahre in Deutschland lebte, hatte in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Kronach eingesessen. Waren die Kronacher Polizeibeamten, die den Angeklagten dort abholten und nach Coburg ins Gericht brachten, gar nicht über die tatsächliche Gefährlichkeit informiert? Das Polizeipräsidium in Oberfranken wollte sich dazu auf Anfrage bisher nicht äußern. Nur so viel teilt die Polizeipressestelle mit: "Aufgrund des laufenden Strafverfahrens und dem Recht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz) werden wir hierzu keine Stellung nehmen."
Wer informiert über die Gefährlichkeit von Angeklagten?
Wenn Gefangene die Justizvollzugsanstalt verlassen und der Polizei übergeben werden, erhalten die Beamten die vorliegenden Informationen über den Gefangenen von der JVA, heißt es aus dem Bayerischen Justizministerium. "Allerdings wird die Entscheidung über die Fesselung und sonstige Sicherungsmaßnahmen bei der Vorführung von den Vorführbeamten der Polizei in eigener Zuständigkeit getroffen, soweit nicht vom Gericht Maßnahmen angeordnet sind“, teilte Philipp Eckel, Pressesprecher des Bayerischen Justizministeriums dem Rechercheteam auf Anfrage mit. Allerdings habe die Transportbegleitung immer allen Sicherheitsaspekten Rechnung zu tragen, insbesondere wenn eine besondere Gefährlichkeit des Gefangenen vorliege.
Dennoch werde zuvor eine Lagebeurteilung getroffen, "wobei die objektiven Kriterien, wie bekanntes Verhalten und beispielsweise der konkrete Tatvorwurf oder die Ausführung der Tat, eine Rolle im Hinblick auf die Einschätzung der Gefährlichkeit spielen können", heißt es von Michael Siefener, dem Sprecher des Bayerischen Innenministeriums auf die Frage, ob es Unterschiede bei den Vorführmodalitäten von Gefangenen bei Gericht gibt.
Anwalt bestreitet Islamismus-Einstufung
Der Bamberger Rechtsanwalt Christian Barthelmes vertritt den Angeklagten seit Sommer 2022. Das gegen seinen Mandanten Islamismus-Verdacht bestehe, sei "falsch", diese Einstufung stimme "ganz und gar nicht", meint der Verteidiger. Barthelmes bestätigte im Gespräch mit dem BR/NN-Rechercheteam lediglich, dass sein Mandant muslimischen Glaubens sei. Er habe das Verfahren "sehr intensiv betreut" und habe keinerlei Hinweise auf Auffälligkeiten des 47-Jährigen Irakers bezüglich seines Glaubens festgestellt. Das einzige Problem, dass der Mann unter Berufung auf seinen Glauben geäußert habe, sei, dass seine 15-jährige Tochter einen Freund hatte.
So gelang dem Mann die Flucht
Der Bamberger Rechtsanwalt war bei der Verhandlung in Coburg anwesend, als seinem Mandanten die Flucht gelang. Nach Barthelmes' Einschätzung sei es dazu gekommen, weil zwei Vorführbeamte aus Kronach die Sache "etwas lax gehandhabt haben", wie der Anwalt sagt. Es sei "schlicht und ergreifend so gewesen, dass die Beamten zu weit entfernt vom Angeklagten saßen". Dieser nutzte die Gelegenheit und floh über das Treppenhaus und ein Fenster im Zeugenzimmer. Der Strafverteidiger betont, dass die Flucht an sich straflos sei. Es werde aber gegen seinen Mandanten noch wegen Sachbeschädigung ermittelt, weil bei seiner Flucht das Fenster im Erdgeschoss des Gerichtsgebäudes ramponiert worden sei.
Trotz sofort eingeleiteter Fahndung konnte der Mann erst einen Tag nach der Flucht aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung an einer Bushaltestelle festgenommen werden. Der Entflohene saß in einem Wartehäuschen in Grub am Forst, einem kleinen Ort im Landkreis Coburg. Weil er sein Aussehen massiv verändert hatte, sich unter anderem die Haare und den Bart abrasiert hatte, steht bei den Behörden die Vermutung im Raum, er könne Helfer gehabt haben. Zudem trug der Flüchtige bei der Festnahme einen anderen Pullover. Ob er sein Äußeres durch einen unterstützungswilligen Helfer veränderte oder indem er jemanden unter Drohungen gezwungen hatte, ihm behilflich zu sein, ist bislang unklar.
Innenminister Hermann will Vorfall "akribisch" nachbearbeiten
Das Landgericht verurteile den 47-Jährigen am Montag in Abwesenheit wegen 61-fachen sexuellen Missbrauchs von Kindern und 43-fachen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft. Sein Strafverteidiger habe laut eigenen Aussagen umgehend Revision gegen das Urteil eingelegt. Sein Mandant sei zu Unrecht verurteilt worden, weil die betroffenen Töchter des Mannes ihre Aussage bei der Polizei widerrufen hätten.
Nun müssen die bayerischen Sicherheitsbehörden prüfen, was in dem Fall schiefgelaufen ist. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte bereits eine "akribische Nachbereitung" der Angelegenheit angekündigt. Justizminister Georg Eisenreich (CSU) hat inzwischen von allen bayerischen Gerichten einen Bericht über ihre Sicherheitskonzepte angefordert.
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