Es war an einem Tag im Jahr 2014. Da habe er die Schmerzen nicht mehr ausgehalten, so der angeklagte ehemalige Narkosearzt im Prozess. Und da lagen eben die vorbereiteten Spritzen, für die Patienten. Mit den Narkosemitteln. Schmerzmittel, die stärker waren als die, die er bisher genommen hatte.
Er hat zugegriffen. Sich an den für die Patienten vorbereiteten Schmerzmitteln bedient. Eine Spritze aufgezogen, sich die auf der Toilette selbst verabreicht. Dann ging es ihm besser. Er habe sich wieder konzentrieren können, sei arbeitsfähig gewesen. Was Patienten bekommen, um für eine Operation narkotisiert zu werden, hat der ehemalige Anästhesist gebraucht, um arbeitsfähig zu bleiben. Wohldosiert, teils sogar mehrfach pro Tag, habe er sich eine Spritze gesetzt.
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Vier Jahre lang spritzte sich der ehemaliger Arzt Narkosemittel
Vier Jahre lang hat er das so gemacht. Im Urlaub habe er die Mittel nicht gebraucht, so der Angeklagte vor Gericht. Aber, gleich am ersten Arbeitstag danach, da habe er nicht anders gekonnt, und wieder zugegriffen. Immer und immer wieder. Die entleerten Spritzen habe er mit Kochsalzlösung wieder aufgefüllt. Es muss also wiederholt vorgekommen sein, dass Patienten statt Narkosemittel nur Kochsalzlösung gespritzt wurde. Bei ihnen musste dann Narkosemittel nachgespritzt werden, um die erhoffte Wirkung zu erreichen.
Pflegerin äußerte Verdacht: "Da stimmt etwas nicht"
Vier Jahre lang hat er das seiner Aussage zufolge so gemacht. Das blieb, wie Chefarzt Ludwig Düthorn vor Gericht sagt, nicht völlig unbemerkt. Im Jahr 2016 sei erstmals eine Mitarbeiterin aus der Pflege auf ihn zugekommen, habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass da etwas nicht stimme, mit dem betreffenden Anästhesisten. Konkreter sei sie nicht geworden.
Solche Mitteilungen erhielt er in den kommenden Monaten mehrfach. Er sei misstrauisch geworden, schließlich kenne er solche Fälle aus seiner langjährigen Erfahrung als Anästhesist. Überall, wo er bisher gearbeitet habe, sei "etwas mit Opiaten gewesen", so Chefarzt Düthorn. Er kenne deshalb auch die Energien, die Süchtige entwickelten, um an die Medikamente zu kommen und dabei unentdeckt zu bleiben. Er war alarmiert, war wachsam, kontrollierte genau.
Trotz Kontrollen – nachweisen konnte man lange nichts
Nachgewiesen werden konnte dem damaligen Anästhesisten dennoch nichts Konkretes. Er habe die Medikamentenmengen kontrolliert, so Düthorn, habe mehrfach in den OP geschaut, wenn der Anästhesist Dienst hatte. Auch den Materialverbrauch habe er im Auge gehabt. Es sei nichts auffällig gewesen. Dennoch hörte er vom Pflegepersonal immer wieder, dass der Anästhesist "irgendwie anders" sei.
Der Chefarzt bat ihn zum Gespräch, mehrfach. Er habe ihm Hilfe angeboten. Der damalige Anästhesist habe diese aber nicht in Anspruch genommen und den Verdacht von sich gewiesen. Drei Mal habe er ihn darauf angesprochen. Als er beim dritten und letzten Gespräch wieder alles abstritt, habe er seinem Kollegen gesagt, so Düthorn wörtlich: "Wenn eines Tages rauskommt, dass Sie mich anlügen, dann gnade Ihnen Gott", so der Chefarzt bei seiner Befragung als Zeuge vor Gericht.
Arzt mit Spritze im Arm gesehen – "Ich wollte erwischt werden"
Bis er an einem Tag im April von einer Schwester mit einer Spritze im Arm erwischt wurde. Das sei sein Ziel gewesen, so der Angeklagte – er habe den Druck nicht mehr ausgehalten. Auf die Frage, warum er das dann nicht seinem Vorgesetzten gemeldet habe, antwortet er: "Weil ich ein Blödmann war".
Chefarzt Düthorn schildert diesen Moment folgendermaßen vor Gericht: Der Anästhesist habe ihn in den OP gebeten, sei auf ihn zugekommen und habe gesagt: "Ja Herr Düthorn, Sie haben Recht. Was werden Sie jetzt mit mir tun?" In diesem Moment sei er einfach wahnsinnig enttäuscht von seinem Kollegen gewesen. Der habe ihm zuvor immer wieder versichert, da sei nichts... "Und dann das!"
Das Krankenhaus hat in der Folge einen Auflösungsvertrag mit dem Mediziner geschlossen. Ein Auflösungsvertrag sei bei möglichen Rechtsstreitigkeiten besser, als eine fristlose Kündigung, so begründet Krankenhauschef Jürgen Busse vor Gericht diesen Schritt. Vorher habe er nie etwas über mögliche Auffälligkeiten des Anästhesisten mitbekommen.
Erst Monate später werden Hepatitis-C-Infektionen bekannt
Was für Folgen die Medikamentenentnahme des damaligen Anästhesisten haben sollte, wurde erst einige Monate später bekannt: Der ehemalige Arzt soll 51 Menschen im Donauwörther Krankenhaus mit Hepatitis angesteckt haben. Wie genau, ist noch nicht geklärt, er hat wohl beim Abzweigen der Narkosemittel unsauber gearbeitet, so dass sein Blut mit dem der Patientinnen und Patienten in Kontakt kam.
Finanzieller Schaden in Millionenhöhe
Für das Krankenhaus war das zunächst vor allem ein Imageschaden - wie jetzt bekannt ist, aber auch ein "immenser finanzieller Schaden", so Vorstand Busse vor Gericht. Die Haftpflichtversicherung der Klinik hat den Betroffenen bereits jeweils bis zu 20.000 Euro Schadenersatz und Schmerzensgeld gezahlt und ist außerdem für die medikamentöse Therapie aufgekommen.
Pro Patient liegen die Kosten hier bei 30.000 bis 50.000 Euro - was eine Schadenssumme von mehreren Millionen Euro ergibt. Seine Klinik sei verpflichtet, den ehemaligen angestellten Arzt dafür in Regress zu nehmen, so Busse weiter, bisher sei dahingehend aber noch nichts geschehen.
Der Angeklagte entschuldigte sich im Prozess bei dem Krankenhauschef für alles. Der nahm die Entschuldigung an, betonte aber, seine Mitarbeiter seien damals und teilweise bis heute stark belastet gewesen durch das, was geschehen sei. Sie könnten es einfach nicht verstehen. Das, so Busse gegenüber dem Angeklagten, solle er wissen.
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