Jedes Mal, wenn es auf dem Display von Stephan Krauss blinkt, muss er mit dem Schlimmsten rechnen. Der Disponent in der Integrierten Leitstelle (ILS) Oberpfalz-Nord in Weiden nimmt täglich Notrufe von Menschen entgegen, die dringend Hilfe brauchen oder in lebensbedrohlichen Situationen sind: Brand, Verkehrsunfall, Bewusstlosigkeit.
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Rufnummer 116 117 ist oft nicht erreichbar
Doch in den vergangenen Jahren sind immer häufiger Anrufer in der Leitung, die einfach nur erkältet sind, ein Rezept brauchen oder lediglich wissen wollen, welcher Hausarzt oder welche Apotheke Bereitschaft hat. Das passiere vor allem, wenn an Wochenenden oder mittwochnachmittags die Hausarztpraxen geschlossen sind.
Die Menschen rufen dann oft erbost die Notrufnummer 112 an, weil sie bei der Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung (KVB) unter der Rufnummer 116 117 nicht durchkommen. Das zeigen die Zahlen und Erfahrungen der Disponenten in Niederbayern und der Oberpfalz. Stephan Krauss muss diese Anrufe dann jedes Mal abwimmeln und die Patienten ermuntern, erneut unter der 116 117 anzurufen.
Tausende "falsche" Anrufe allein in Regensburg
Die Zahl der Anrufe, die von der ILS an die KVB zurückverwiesen werden mussten, lag in Regensburg im vergangenen Jahr bei 5.500. Im Jahr 2019 waren es noch 3.700. Seitdem stieg die Zahl kontinuierlich an. Das ergab eine Auswertung der ILS Regensburg. In Straubing mussten die Disponenten der ILS im vergangenen Jahr etwa 2,5 Prozent der gesamten Anrufe an die KVB verweisen. Die ILS Passau bestätigt den Trend.
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In der ILS Oberpfalz-Nord Betriebsstätte Weiden sind es rund acht Anrufe im Monat. Das klingt zunächst nach wenig. Doch jeder dieser Anrufe ist einer zu viel, sagt Jürgen Meyer, der Leiter der ILS Oberpfalz-Nord. Denn diese Anrufe würden in den Leitstellen Ressourcen binden. Meist seien die Anrufer gereizt und ließen erstmal Dampf ab bei den Disponenten. Das dauere oft viele Minuten.
KVB spricht von Einzelfällen
In dieser Zeit könne der Disponent keine Hilferufe von Menschen annehmen, bei denen es um eine möglicherweise lebensbedrohliche Situation gehe. Komme es dann tatsächlich zum Einsatz eines Notarztes oder Rettungswagens, sei auch der zeitlich und räumlich nicht mehr verfügbar für tatsächliche Notlagen. Das bestätigt auch Sebastian Fehrenbach von der ILS Passau. Eigentlich unnötige Anrufe seien "spürbar" und "machen uns zu schaffen", so Fehrenbach.
Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern spricht hingegen von Einzelfällen. Die kostenfreie Hotline 116 117 sei innerhalb weniger Minuten erreichbar. In Spitzenzeiten wie an Feiertagen oder zum Jahreswechsel könnten es auch mal zehn bis zwölf Minuten sein, so Sprecher Martin Eulitz.
Was Bequemlichkeit und Erwartungen damit zu haben
Als Gründe nennen die Anrufer aber sehr häufig, dass sie bei der KVB-Hotline nicht durchkämen, mehr als 30 Minuten warten müssten. Und auch die Bequemlichkeit der Patienten spiele eine Rolle, sagt Johann Kick, der ärztliche Leiter des Rettungsdienstes in der nördlichen Oberpfalz. Er ist selbst Notarzt. Ein Notarzt komme innerhalb weniger Minuten an den Einsatzort, Bereitschaftsärzte bräuchten länger, erklärt Kick.
Dazu kommt: Notärzte und Bereitschaftsärzte zahle die Krankenkasse, ein Bus oder Taxi zur nächsten Bereitschaftspraxis sei mit Eigenkosten verbunden. Auch die Erwartungshaltung von Patienten, dass ein Arzt zu ihnen kommen müsse, spiele manchmal eine Rolle. Das sei frustrierend für Notärzte und Einsatzteams, denn zeitgleich seien sie dann möglicherweise für lebensbedrohliche Vorkommnisse nicht einsatzbereit. Manche Anrufer würden sogar im Internet recherchieren und ihre geschilderten Symptome verschlimmern, damit der Notarzt komme.
Anruf bei der 112 soll Leben retten können
Sowohl die Kassenärztliche Vereinigung, als auch die Integrierten Leitstellen weisen auf die Unterschiede der Rufnummern und dahinterstehenden Strukturen hin. In lebensbedrohlichen Lagen wie einem Brand, einem Unfall oder Bewusstlosigkeit ist europaweit der Rettungsdienst über die Rufnummer 112 zu erreichen. Dabei geht es um die Rettung von Menschenleben.
Wer hingegen Schmerzen oder eine Erkältung hat, oder ein Rezept vom Hausarzt braucht, soll sich an die kostenlose Hotline 116 117 wenden oder direkt eine Bereitschaftspraxis der KVB aufsuchen, die es flächendeckend gibt. Vor allem können sich Patienten im Vorfeld bereits auf der Internetseite 116177.de informieren, wo sich Bereitschaftspraxen befinden und sie können dort Informationen über eine Einstufungsskala ihrer Beschwerden finden. Nur in "medizinisch indizierten Fällen", also wenn ein Patient gar nicht mobil ist oder in eine Bereitschaftspraxis kommen kann, dann fährt ein Bereitschaftsarzt der KVB auch zu Patienten nach Hause. Das sei aber die Ausnahme, so ein Sprecher der KVB.
Skepsis bei Reformplänen
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte Mitte Februar einen Vorschlag einer Expertenkommission zu einer Reform der Notfallversorgung an Kliniken vorgestellt. Demnach schlagen die Experten neue Integrierte Leitstellen vor, in denen Anrufe zunächst danach sondiert werden, ob der Rettungsdienst oder die Bereitschaftsärzte gebraucht werden. Das sei in der Praxis wohl nicht umzusetzen, sagt Notarzt und der ärztliche Leiter des Rettungsdienstes in Weiden Johann Kick. Er schätzt die Umsetzung dieser Vorschläge als "sehr schwierig" ein. Denn dafür müsste eine Leitstelle rund um die Uhr auch mit Ärzten besetzt sein.
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