Der Neubau des Bildungszentrums St. Wolfgang im Straubinger Nordwesten wirkt eher kühl. Graue Betonwände dominieren die Räumlichkeiten im Inneren. Nebenan werden die alten Gebäude gerade saniert. Auf den ersten Blick keine Wohlfühlatmosphäre für Kinder. Doch betritt man die Inklusionsklasse 1, sieht das schon ganz anders aus. Das liegt an den 23 Schülerinnen und Schülern, die mit ihren bunten Federmappen und ihrer fröhlichen Art den Raum erstrahlen lassen. Es ist eine besondere Klasse.
"Inklusion ist keine Einbahnstraße"
Hieß Inklusion lange Zeit, dass förderbedürftige Kinder in Regelschulklassen integriert oder Partnerklassen geschaffen wurden, so verfolgt die Jugendfürsorge Regensburg einen anderen Ansatz. Sie ist Trägerin des Bildungszentrums St. Wolfgang. Unter der Leitung von Direktor Michael Eibl entstand vor über 15 Jahren die Idee, Inklusion anders zu denken: "Wir haben gesagt, Inklusion ist keine Einbahnstraße", erklärt Eibl. "Wir haben das auch im Bayerischen Landtag diskutiert."
Laut Eibl war die Katholische Jugendfürsorge dann Vorreiterin dieses neuen Wegs des inklusiven Schulbetriebs. Der Direktor und sein Team konnten mit der St. Jakob Grundschule in Straubing eine Partnerschule gewinnen. 2011 wurde erstmals eine komplette Grundschulklasse an das Förderzentrum geholt und integriert. Seit 2014 gibt es vier dieser Inklusionsklassen.
Blau plus gelb ergibt: "Team grün"
In der Inklusionsklasse 1 steht heute Vormittag Kunst auf dem Plan – und zwar für "Team grün". So nennen sie es hier, wenn sich die 15 Grundschulkinder, das blaue Team, mit den acht Kindern mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung, "Team gelb", mischen. Denn blau und gelb ergeben in der Farbenlehre grün.
"Das ist eine schöne Möglichkeit, es einfach zu benennen. Die Kinder wissen Bescheid und jeder fühlt sich wohl mit den Begriffen", sagt Christina Müller. Sie ist die Sonderpädagogin in der Klasse und in erster Linie für die beeinträchtigten Kinder zuständig.
Vielfalt als Normalität leben
Müller und ihre Kollegin Maria Franz, die Grundschullehrerin, versuchen, harte Begriffe zu vermeiden. Schon gar nicht sage man "normal" oder "gesund" zu den Kindern ohne Beeinträchtigung. Denn die Förderkinder seien natürlich nicht unnormal oder krank.
Es geht ihnen darum, Grenzen zu verwischen, Berührungsängste abzubauen. Die Kinder sollen Vielfalt erkennen und das als Normalität leben. Vielfalt ist eben bunt – so wie die Teams blau, gelb und grün. Die Grundschulkinder in der Inklusionsklasse – so das Ziel – sollen also profitieren, indem sie früh eine ausgeprägte soziale Kompetenz entwickeln.
Fünf Fachkräfte für 23 Schüler
Aber sie haben noch einen anderen Vorteil. Denn wo an Regelschulen teilweise eine Lehrkraft für bis zu 30 Kinder zuständig ist, sind hier mindestens fünf Erwachsene für die 23 Schüler eingeteilt: Die beiden Lehrerinnen, dazu eine Erzieherin und zwei Fachkräfte für bestimmte Kinder. Ein Team, das funktioniert und sich gegenseitig unterstützt.
"Die Herausforderung besteht darin, dass man sich absprechen muss. Und da müssen wir als Tandem vom Menschlichen her wirklich gut harmonieren", sagt Maria Franz. Christina Müller ergänzt: "Gerade auch gemeinsam im Team, wenn man so viele Tage, so viele Stunden in der Woche so eng zusammenarbeitet."
40 Prozent gemeinsamer Unterricht
Sie entscheiden, wann sie die Klasse splitten und wann es an der Zeit für Team grün ist. Aktuell finden etwa 40 Prozent des Unterrichts gemeinsam statt. Kunst, Musik, manchmal auch Deutsch gehören zum Beispiel dazu. Die beeinträchtigten Kinder sehen in ihren Kameraden aus der Grundschulklasse Vorbilder. Es entsteht der Zugpferdeffekt, wie sie es hier nennen. Sie eifern nach, wollen sich verbessern.
Christina Müller erinnert sich an eine gemeinsame Deutschstunde: "Einigen Grundschülern ist aufgefallen, dass ein Mädchen mit Förderbedarf total gut geschrieben hat", erzählt Müller lächelnd. "Da haben drei oder vier Mädels dann gesagt: 'Mensch, Luisa, ich habe gar nicht gewusst, wie schön du schreiben kannst!' Und dann sitzen wir eigentlich nur da und denken: 'Herrlich, schön!'"
Übertrittszahlen "ein Riesenerfolg"
Wenn es dann irgendwann Richtung Übertritt in weiterführende Schulen geht, werden die Herausforderungen für Müller, Franz und ihr Team nicht geringer. Doch die Erfahrung zeigt, dass es hier keine Nachteile für die nicht beeinträchtigten Kinder gibt.
"Die Übertrittszahlen zum Beispiel zur Realschule oder zum Gymnasium sind genauso wie an Regelschulen. Und das ist ein Riesenerfolg", erläutert Direktor Eibl, der die Inklusionsklassen als "Modell der Zukunft" und "das goldene Los" bezeichnet. Finanziert wird diese Form der Inklusion durch die Kommune, den Regierungsbezirk und die Jugendfürsorge selbst.
"Dann weiß keiner mehr, wer die echte Amelie ist"
In der Inklusionsklasse 1 läuft weiter der gemeinsame Kunstunterricht. Die Kinder basteln Faschingsketten aus Papier. Die kleine Anna aus dem Grundschulteam sitzt in der ersten Reihe und klebt die bunten Ringe zusammen. Sie mag die Unterschiede zwischen ihren Schulfreunden.
"Wenn alle gleich ausschauen", sagt sie mit Blick auf die beeinträchtigte Amelie, die neben ihr sitzt, "wie soll das gehen? Wenn alle ausschauen wie Amelie, dann weiß ja keiner mehr, wer die echte Amelie ist." Vielfalt wird in diesem Moment zur Normalität. So wie es nicht nur in der Inklusionsklasse 1, sondern überall auf der Welt sein sollte. Das findet auch die kleine Anna.
Im Video: Inklusion - eine besondere Schulgemeinschaft in Straubing
Dieser Artikel ist erstmals am 11.02.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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