Eine Gruppe Menschen steht auf einem Gehsteig bei einer Führung durch Gunzenhausen.
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Seit mehr als zwei Jahren treffen sich Menschen aus Gunzenhausen online mit Jüdinnen und Juden mit Wurzeln in der Altmühlstadt zur Dialoggruppe.

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Jüdische Familien auf der Suche nach ihren Wurzeln

Seit mehr als zwei Jahren treffen sich Menschen aus Gunzenhausen mit Jüdinnen und Juden, die hier ihre Wurzeln haben, online zum Dialog. Nach vielen virtuellen Treffen gab es nun das erste persönliche Treffen vor Ort – trotz tiefer Wunden.

Über dieses Thema berichtet: regionalZeit - Franken am .

Etwa zehn Menschen stehen vor einem Hotel in Gunzenhausen und warten darauf, dass Emmi Hetzner ihre Stadtführung beginnt. Es ist eine besondere Gruppe: Alle von ihnen haben Vorfahren, die in Gunzenhausen gelebt haben und vor dem Nazi-Regime fliehen mussten.

Die Familien sind Teil der jüdischen Dialoggruppe, die sich seit mehr als zwei Jahren einmal im Monat online trifft. Menschen aus Gunzenhausen begegnen dort Menschen mit Wurzeln in Gunzenhausen. Die Gruppe spricht über den Holocaust, die Folgen und das Miteinander zwischen Juden und Deutschen.

Jüdische Familien besuchen Häuser der Vorfahren

Nun hat sich die Gruppe das erste Mal persönlich getroffen. Insgesamt 30 Jüdinnen und Juden sind nach Mittelfranken gekommen, extra für dieses Treffen aus den USA angereist. Ein halbes Jahr hat ein Team in Gunzenhausen den Besuch vorbereitet und einiges für die jüdischen Familien organisiert. Zum Beispiel geht es bei der Stadtführung durch Gunzenhausen zu den Häusern, in denen die Familien der Jüdinnen und Juden gelebt haben.

Die Gruppe stoppt bei einem Friseur. Dort hatte die Familie der Amerikanerin Faye Dottheim-Brooks eine Weinhandlung. Schräg gegenüber lebte Familie Eisen. Deren Nachfahren Lisa Hale, Carol Zsolany und Diane Robertson stehen vor der Tür des gelblichen Hauses. "Sie können in das Haus gehen. Die Familie müsste da sein", sagt Emmi Hetzner und klingelt.

"Es macht die Familie lebendig"

Die heutigen Bewohner wurden im Vorfeld gefragt, ob sie ihre Türen für die jüdischen Gäste öffnen würden – und die waren gerne dazu bereit. Die Nachfahren der Familie Eisen sitzen im Esszimmer und unterhalten sich mit den heutigen Besitzern des Hauses. Für Lisa, Carol und Diane ist das ein emotionaler Besuch. Tränen fließen. "Es ist interessant. Es macht die Familie irgendwie lebendig", sagt Diane Robertson. Ihre Schwestern Lisa Hale und Carol Zsolany empfinden das ähnlich. "Danke für die Gastfreundschaft, dass Sie uns hereingelassen haben, um zu sehen, wo unsere Familie gelebt hat", bedankt sich Carol.

Tiefe Wunden in jüdischen Familien

Begegnungen wie diese machen den Besuch der Dialoggruppe besonders. Auch wenn die Treffen der Gruppe nicht immer harmonisch verlaufen. Die Wunden, die der Holocaust in den jüdischen Familien hinterlassen hat, sind groß. Größer, als sich das Nicht-Juden vorstellen können. So erzählt Shulamit Reinharz aus Boston, ihr Vater habe immer vom Holocaust gesprochen – auch als sie ein Kind war. Das habe dazu geführt, dass es sich so anfühle, als sei sie selbst im Konzentrationslager in Buchenwald gewesen, so wie ihr Vater.

"Wenn ich dusche, in meiner Wohnung in Boston, versichere ich mich immer, ob aus meiner Dusche tatsächlich Wasser kommt. Wenn ich einen Zug sehe, versichere ich mich immer, ob es ein Zug für Menschen ist, und wenn ich Kinder in Deutschland spielen sehe, denke ich immer: 1,5 Millionen Kinder sind umgebracht worden. Ich kann die Kinder nicht ansehen." Shulamit Reinharz

Die Dialoggruppe und auch der Besuch in Gunzenhausen würden ihr helfen, besser mit der Vergangenheit zurechtzukommen, sagt die Professorin aus Boston. "Aber es ist immer noch schwierig."

Vorbehalte gegenüber dem Besuch

Einige der Familien hätten starke Vorbehalte gehabt und eigentlich nicht nach Gunzenhausen kommen wollen, erzählt Stefan Mages, Psychologe und Moderator der jüdischen Dialoggruppe. "Manche der Teilnehmer mussten ihren Vorfahren, die jetzt schon verstorben sind, versprechen, nie mehr nach Gunzenhausen zu kommen. Oder nach Deutschland. Und trotzdem sind sie hier", berichtet Mages. Es sei ein riesiger Schritt gewesen zu kommen. "Diese Herzlichkeit zu erfahren, ist nicht selbstverständlich", ist Mages überzeugt.

Gedenktafel für die eigene Familie

Auf dem jüdischen Friedhof von Gunzenhausen versuchen die Besucherinnen und Besucher, die Namen auf den Grabsteinen zu lesen. Viele sind schon stark verwittert. Ob man die Inschriften konserviert habe, fragt eine der Besucherinnen. Die deutschen Teilnehmer der Dialoggruppe wollen sich darum kümmern.

Nur noch wenige Grabsteine stehen auf dem jüdischen Friedhof. Die Nazis haben einen Großteil entfernt. Faye Dottheim-Brooks aus New York hat für ihre Familie eine Gedenktafel anbringen lassen. Das haben schon mehrere jüdische Familien getan.

Die Dialoggruppe beendet die Führung auf dem Friedhof mit dem Kaddisch, einem Gebet für die Toten. Für die Gruppe geht es am Abend noch zu einer Diskussionsrunde mit Gunzenhäuser Bürgern. Der Dialog geht weiter – für eine gemeinsame Zukunft von Juden und Deutschen.

In Gunzenhausen suchen jüdische Menschen nach den Wurzeln ihrer Familien.
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