Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP)
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Verkehrsprognose: Politik und Wissenschaft widersprechen Wissing

Der Bundesverkehrsminister begründet seinen Einsatz für den Straßenausbau auch mit den Ergebnissen der Verkehrsprognose: Lkw und Pkw bleiben demnach bis 2051 am wichtigsten. Aber sind die Annahmen richtig? Die Kritik an der Prognose wird lauter.

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 3-Nachrichten am .

Zumindest eines ist unumstritten: Deutschland ist in den vergangenen Jahren nicht wie erwartet geschrumpft, sondern ein bisschen gewachsen. Und die Bevölkerung wächst wahrscheinlich noch eine ganze Zeit lang weiter. Mehr Menschen, das heißt auch mehr Gütertransport in Deutschland, so sieht es die Verkehrsprognose von Bundesverkehrsminister Volker Wissing. Darin steht auch, wie die Güter dann wohl transportiert werden: vor allem auf der Straße. Der Lkw-Güterverkehr werde um 54 Prozent zunehmen, der auf der Schiene um 33, sagte Wissing im März, als er seine neue Prognose vorstellte.

Lkw und Straße dominieren auch 2051

Nach allem, was FDP-Minister Wissing in die Zukunft projizieren ließ, werden der Lkw auch 2051 noch "das dominierende Verkehrsmittel" und die Straße der wichtigste Verkehrsträger sein. Im Frühjahr stritten Grüne und FDP darüber, ob auch Straßen beschleunigt gebaut werden sollen oder nur erneuerbare Energien. Da war die Verkehrsprognose eine gute Argumentationshilfe für den Verkehrsminister. Nun scheint der Streit um die Planungsbeschleunigung beendet. Aber die Prognose ist noch da, wird und wird von Wissing nach wie vor ausgiebig zitiert.

Grüne: Prognose als Dystopie

Aber sie wird auch immer deutlicher kritisiert. Etwa von Stefan Gelbhaar, dem verkehrspolitischen Sprecher der Grünen im Bundestag. Er zweifelt an manchen Zahlen in der Prognose. Man könne in ihr eine Art selbsterfüllende Prophezeiung sehen, sagt Gelbhaar gegenüber BR24. Wenn man "ganz viele Straßen baut und im Straßenverkehr alles richtig günstig macht", gleichzeitig aber die Finanzierung der Bahn nur moderat erhöhe, "dann wird es so kommen". Gelbhaar nennt Wissings Prognose deshalb eine "Dystopie". Mit ihr seien die Klimaziele überhaupt nicht zu erreichen. Gelbhaar fordert mehr Einsatz für die Schiene.

Bahnverbände: Prognose "grottenschlecht"

Vertreter der Bahnbranche zeigen eine Mischung aus Entsetzen und Ärger. Dirk Flege von der Allianz pro Schiene nennt die Prognose "grottenschlecht". "Jeder Fachmann, jede Fachfrau schlägt die Hände überm Kopf zusammen", sagt er im Gespräch mit BR24. Gemeint sind die aus seiner Sicht "völlig falschen Prämissen".

Mit anderen Bahnverbänden hat die Allianz pro Schiene diese Grundannahmen auseinandergenommen: Die Branche findet, dass der Lkw-Verkehr schöngerechnet, also billiger gemacht wurde als er in Zukunft sein wird. Etwa beim CO2-Preis, der zu niedrig kalkuliert worden sei, oder bei der Lkw-Maut, die in der Prognose 17 Jahre lang quasi unverändert bleibt. Das Potenzial der Schiene dagegen wird künstlich klein gerechnet, sagen die Verbände. Mit zu geringem Trassenausbau, mit nicht eingerechneten Hochleistungskorridoren und Automatisierungen, die die Abfertigung von Güterwagons gewaltig beschleunigen und günstiger machen sollen. Das alles sei gar nicht oder viel zu wenig mit einbezogen worden.

Wissing: Prognose bildet Wissensstand unserer Gesellschaft ab

Der Verkehrsminister wehrt sich gegen diese Kritik. Sein Ministerium will eine "möglichst realistische Vorausschau". Deshalb lägen ihr "Maßnahmen zugrunde, die bereits als 'absehbar' gelten, z.B. durch politische Beschlüsse". Wenn die Lkw-Maut oder der CO2-Preis steige, werde die Prognose angepasst. Zur Kritik an den Prämissen der Prognose verweist Wissing darauf, dass sie aufwendig mit 250 Stellen, unter anderem auch mit den Bundesländern, abgestimmt worden seien. Wissing sagt, in den Grundannahmen der Verkehrsprognose sei der Wissens- und Diskussionsstand unserer Gesellschaft abgebildet.

Verkehrsforscher: "Mit Wissen unterwegs, das längst veraltet ist"

Wer hat nun recht? Der Verkehrsforscher Prof. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat sich die Prognose genau angeschaut und glaubt nicht, dass sie den Wissensstand der Gesellschaft abbildet. Der Verkehrsforscher sagt, dass die Experten, die im Verkehrsministerium zurate gezogen werden, seit vielen Jahren dieselben seien. Das führe dazu, "dass diese Experten mit Wissen unterwegs sind, das schon längst veraltet ist". Im Verkehrsministerium werde mit Modellen hantiert, "die längst aus der Zeit gefallen sind". Realistische Vorhersagen seien mit diesen Modellen nicht möglich.

Experte erwartet weniger Verkehr – auch auf der Straße

So erwartet die Verkehrsprognose bis 2051 einen riesigen Anstieg beim Güterverkehr: 46 Prozent mehr als heute. Die Annahme ist aus Sicht des Verkehrsforschers falsch. Der Welthandel sei mit Corona zurückgegangen und werde nicht mehr zur alten Form zurückkehren. Dazu kommt, dass der Transport teurer werde und regionale Strukturen wichtiger. Es werde nicht mehr alles zigfach um die Welt geschickt. Bereits heute sei der Rückgang in Häfen, im Güterverkehr, im Containerverkehr sichtbar. Das werde auch auf der Straße zu deutlich weniger Verkehr führen, erklärt der Wissenschaftler. "In den Prognosen des Verkehrsministeriums wird das zurzeit nicht abgebildet."

Aus der Prognose wird Verkehrspolitik

Ob zutreffend oder nicht - die Verkehrsprognose des Bundesverkehrsministers wird wohl eine wichtige Grundlage für politische Entscheidungen in der deutschen Verkehrspolitik. Dementsprechend formiert sich politischer Druck, sie zu überarbeiten. Die Grünen wollen sich im Bundestag mit Nachdruck für die Bahn einsetzen. Die Bahnverbände drängen darauf, den Verkehrsminister möglichst bald zu treffen. Wissing hat zwar angekündigt, dass die Prognose ständig aktualisiert wird. Aber er dürfte wie die Kritiker wissen, dass einmal getroffene Entscheidungen bei Verkehrsprojekten selten wieder zurücknehmbar sind - wohl auch dann nicht, wenn sich eine Prognose grundlegend ändert.

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