Seit Wochen herrscht Verunsicherung in vielen Einrichtungen, die auf Freiwillige angewiesen sind: Das Bundesfamilienministerium muss für das kommende Haushaltsjahr fast eine Milliarde Euro einsparen. Ein Viertel der Plätze für das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) könnten den Sparmaßnahmen zum Opfer fallen, so die Befürchtung.
- Zum Artikel: Sozialverbände wollen Kürzungen beim FSJ verhindern
Schon im vergangenen Sommer hatte Familienministerin Lisa Paus (Grüne) für das derzeitige Haushaltsjahr angekündigt, dass es weniger Möglichkeiten für Freiwilligendienste geben werde. Erst im letzten Moment wurden diese Pläne zurückgenommen – auf öffentlichen Druck hin. Jetzt entbrannte die Diskussion erneut. Doch im exklusiven Interview mit dem BR-Politikmagazin Kontrovers kündigt die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium, Ekin Deligöz (B'90/Grüne), Widerstand an:
"Wir haben gar nicht vor, beim Geld für Freiwilligendienste zu kürzen, weil: Wir halten all diese Maßnahmen, seien das die Jugendfreiwilligendienste oder das ökologische Jahr oder das Auslandsjahr für sehr wichtig und unabdingbar – auch für den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft." Ekin Deligöz (B'90/Grüne), parl. Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium
Kampfansage an das Finanzministerium
Deshalb wolle man im Bundesfamilienministerium die Höhe der Finanzmittel auch für das kommende Haushaltsjahr und "auch für die Folgejahre" verteidigen, so Deligöz weiter. Die Aussagen lassen aufhorchen, denn mit Deligöz kritisiert nicht ein Mitglied der Opposition, sondern aus der eigenen Regierung die Sparpläne von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP).
Statt die Einsparzwänge in Gänze hinzunehmen, ist das Bundesfamilienministerium laut Deligöz bemüht, den Etat um weniger als eine Milliarde kürzen zu müssen: "Wir verteidigen das in einem neuen System der Ressourcenverteilung zwischen Ministerien gegenüber dem Finanzministerium." Konkreter benennt sie das "neue" System nicht.
Deligöz: Haushaltsverhandlungen bis zum Winter
Stattdessen sieht Ekin Deligöz das letzte Wort in Haushaltsfragen noch lange nicht gesprochen: "Die Verhandlungen gehen, bis der Bundestag den Beschluss gefasst hat. Das heißt, das wird im November oder Dezember stattfinden."
Bis dahin werde sie an erster Stelle für die Rechte der Freiwilligendienstleistenden einstehen, sagt die Grünen-Politikerin im Interview mit Kontrovers. Und hofft auf Unterstützung durch die Bundesabgeordneten aus dem Haushaltsausschuss. Sie stellt klar: "Am Ende beschließt der Deutsche Bundestag den Etat und bis dahin ist keine Haushaltsverhandlung abgeschlossen". Sie sei sich sicher, dass sie ihre Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss davon überzeugen könne, dass Freiwillige eine großartige Arbeit für die Gesellschaft, den Zusammenhalt und die Demokratie leisten.
Im Video: Kontrovers-Interview mit Ekin Deligöz (B'90/Grüne)
Freiwillige sind längst unentbehrlich
Wie wichtig Freiwillige im sozialen Jahr in Bayern tatsächlich sind, zeigen etliche Beispiele im Freistaat, wie etwa im AWO-Kinderhaus in Hallstadt bei Bamberg: Werden Kolleginnen krank oder sind im Urlaub, dann springt Michelle Frank ein. Seit sechs Monaten macht die 25-Jährige ihr Freiwilliges Soziales Jahr im AWO-Kinderhaus Hallstadt und packt 30 Stunden die Woche überall mit an – für ein "Taschengeld", wie es bezeichnet wird.
Michelle Frank wollte ausprobieren, wie die Arbeit im Kindergarten ist. Ihr Fazit nach einem halben Jahr: "Mein FSJ hat mich auf jeden Fall bestärkt, dass ich gesagt habe: Okay, das ist ein Beruf, der ist für mich gemacht." Für sie ist mittlerweile klar: Sie wird sich zur Kinderpflegerin ausbilden lassen.
Freiwillige federn Personalmangel im Sozialbereich ab
Für die Leiterin des AWO-Kinderhauses Susanne Kriegel sind Freiwillige inzwischen unentbehrlich gewordene, helfende Hände. Denn der Personalmangel macht auch vor diesem Kindergarten nicht Halt.
"Unser Personalschlüssel ist bei 9,5 im Schnitt. Das heißt eine Mitarbeiterin hat 9,5 Kinder. Wenn die zu zweit in der Gruppe sind, eine ausfällt, dann steht die Fachkraft mit 18 Kindern 40 Stunden die Woche allein in der Gruppe. Und wenn dann keine helfende Hand da ist, dann ist die Aufgabe, können Sie sich vorstellen, ziemlich schwierig zu bewältigen." Susanne Kriegel, Leiterin AWO-Kinderhaus
Erst vergangene Woche musste eine Kindergruppe für einige Tage schließen, weil Mitarbeiterinnen krank waren.
Bundespräsident hofft auf wenige Kürzungen
Ohne Freiwillige könnte sowas bald Alltag sein in Bayerns Kindereinrichtungen. Denn wie hier im Kinderhaus sind Freiwillige im sozialen Jahr für viele inzwischen eine Erleichterung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) spricht sich bereits seit längerem für ein verpflichtendes "Gesellschaftsjahr" für alle jungen Menschen aus.
Am Mittwochmorgen betonte Steinmeier beim Besuch einer Kindertagesstätte in Weiden in der Oberpfalz: "Wir sehen hier in dieser Kita, wie wichtig die finanzielle Unterstützung der öffentlichen Hand ist und insofern hoffe ich, dass vieles von dem, was hier wichtig und wertvoll ist, erhalten bleibt."
Ekin Deligöz scheint dieselbe Einschätzung zu teilen. Dass sie sich als parlamentarische Staatssekretärin auch in Zukunft gegen das Finanzministerium stemmen will, lässt all jene Einrichtungen hoffen, die auf die Unterstützung Freiwilliger angewiesen sind. Für Deligöz ist im Kontrovers-Interview jedenfalls klar: "Sie kürzen bei den Freiwilligendiensten an einem kleinen Bereich und damit lösen sie nicht die großen Finanzfragen."
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