Gefängnis, das ist das Wort, das Samuel als erstes einfällt, wenn er an das Wohnstift Innblick in Neuhaus am Inn denkt. Er hat dort gearbeitet und möchte anonym bleiben - wie alle Mitarbeiter und Angehörigen, mit denen der BR spricht. Sie alle sagen, wer sich selbst versorgen kann, dem geht es in dem Altenheim gut. Samuel schildert, wie alte Menschen leiden, die auf Pflege angewiesen sind: "Die Leute werden nicht gelagert, liegen teilweise Stunden in Urin und Stuhlgang. Sie müssen unbändige Schmerzen haben aufgrund ihrer offenen Wunden. Essensentzug, Wasserentzug, weil keiner sich die Zeit nimmt, ihnen das Essen einzugeben oder was zu trinken zu reichen."
Wissenschaftlerin: "Gefährliche und menschenunwürdige Pflege"
Dem BR werden im Laufe der Recherche Hunderte Fotos aus dem Heim zugespielt. Viele der Bilder sind verstörend. Sie zeigen offensichtlich unversorgte Wunden, teils kann man Knochen sehen. Entzündete Augen und Hautstellen, lange, teils verfärbte Nägel, Stuhlspuren an Bett und Boden. Die Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler von der Ostfalia Hochschule in Wolfsburg ist fassungslos, als die Reporter ihr die Bilder zeigen. Viele der alten Menschen auf den Fotos wirken auf die Expertin unterernährt und dehydriert: "Das weist auf eine gefährliche und menschenunwürdige Pflege hin."
Laut Samuel und seinen Kollegen fehlt Personal, vor allem aber fehlen Pflegefachkräfte. Das steht in nichtöffentlichen behördlichen Berichten, die dem BR vorliegen. Laut Heimaufsicht war bei ihren Kontrollen die vorgeschriebene Fachkraftquote von 50 Prozent nicht erfüllt.
Heimaufsicht offenbar untätig
Mitarbeiter des Heims, aber auch Angehörige geben an, dass sie die Missstände der Heimaufsicht des Landkreises Passau mehrfach gemeldet haben. Diese sogenannte "Fachstelle für Pflege und Behinderteneinrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht" (FQA) reagierte nach ihren Angaben meist nicht. Im Dezember 2021 habe die FQA die Heimleitung lediglich um eine schriftliche Stellungnahme gebeten. Auf BR-Anfrage äußert sich das Landratsamt Passau nicht zu diesen Vorwürfen. Es bestätigt aber erhebliche Mängel und dass die Heimaufsicht die Einrichtung zwischen Juli 2019 und März 2022 nicht kontrolliert hat.
Pflege-SOS bringt Bewegung in den Fall
Im März wenden sich einige Mitarbeiter an das Pflege-SOS. Bei dieser Meldestelle am Landesamt für Pflege können Mitarbeiter, Heimbewohner oder Angehörige auch anonym Missstände melden. Das Gesundheitsministerium hatte das Pflege-SOS nach den BR-Berichten über Skandalheime am Schliersee und in Augsburg gegründet. Minister Klaus Holetschek sagte im März in einem BR-Interview: "Ich denke, es ist einfach ein zusätzliches Instrument. Wir stellen damit die Würde des Menschen weiterhin in den Mittelpunkt unseres Handelns."
Bis Mitte Mai gingen laut Landesamt für Pflege bei der Meldestelle 132 Beschwerden ein, davon wurden 41 an die zuständigen Heimaufsichten weitergeleitet. Darunter auch die Beschwerde über das Wohnstift Innblick, woraufhin die Heimaufsicht, die bis dahin nur um eine schriftliche Stellungnahme gebeten hatte, die Einrichtung am 21. März 2022 besuchte.
Berichte: Mögliche Gefahr für Leben und Gesundheit der Bewohner
BR Recherche liegt der nichtöffentliche Prüfbericht der Heimaufsicht vor, der die Vorwürfe von Mitarbeitern und Angehörigen bestätigt. Darin heißt es: "Die Prüfung hat weiterhin einen massiven Einbruch in der Ergebnisqualität der Pflege aufgezeigt, mit festgestellten schwerwiegenden Mängeln, die eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität und Sicherheit der Bewohner darstellen."
Seitdem gilt im Wohnstift Innblick ein Aufnahmestopp. Das Heim darf vorerst keine neuen Bewohner aufnehmen. Die Einrichtungsleitung habe eine Mitarbeiterfortbildung zum Thema ‚Gewalt in der Pflege‘ veranlasst, heißt es. Den ehemaligen Mitarbeitern reicht das nicht aus. Denn an der Situation für die Bewohner habe sich nichts geändert. Daher wenden sich die Pflegekräfte an BR Recherche. Ab Anfang Mai fragt der BR Aufsichtsbehörden an und schildert die recherchierten Pflegemissstände, kurz darauf finden weitere Kontrollen statt. Wieder stoßen die Prüfer auf erhebliche Mängel.
Auf Anfragen erhält der BR ausschließlich schriftliche Antworten. Der Landrat des Landkreises Passau, Raimund Kneidinger (CSU), will sich nicht im Interview äußern. Auch Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) reagiert nicht auf eine Interviewanfrage. Ein Ministeriumssprecher schreibt dem BR, gerade der oben angeführte Fall bestätige nachdrücklich die Sinnhaftigkeit der Anlaufstelle Pflege-SOS.
Expertin: Pflege-SOS keine Lösung
Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler bezeichnet das Pflege-SOS als "Sorgentelefon". Es brauche keine weiteren Meldewege, denn die Beschwerden landeten ja wieder im selben Aufsichtsapparat, es brauche Entscheidungen und ein konsequentes Handeln der Aufsichtsbehörden, sagt Hasseler im Interview mit dem BR: "Man muss vor allem die schlechte Pflege sofort stoppen."
Es gebe immer wieder Berichte über massive Pflegemissstände in Altenheimen, so Martina Hasseler im BR-Interview. Allein der Bayerische Rundfunk veröffentlicht nach Schliersee und Augsburg nun ein drittes Mal. Für Martina Hasseler sind die Parallelen zum Wohnstift Innblick frappierend, von Einzelfällen könne nicht länger die Rede sein. Die Wissenschaftlerin regt an, systematisch zu untersuchen, wie es wirklich um die pflegerische Versorgung in deutschen Altenheimen bestellt sei.
Wohnstift Innblick bestreitet alle Vorwürfe
Vergangene Woche konnten BR-Reporter das Wohnstift Innblick auf Einladung der Heimleitung besuchen, ohne Kamera und Mikrofon. Die präsentierten Gänge und Zimmer waren sauber und rochen frisch gestrichen. Mit drei Bewohnerinnen durften die Reporter in Anwesenheit einer Pflegefachkraft sprechen. Alle drei äußerten sich zufrieden. Eine Dame wies darauf hin, dass sie nicht wisse, wie es den nichtmobilen Bewohnern gehe, die sehe sie nicht. Eine andere Seniorin erklärte, sie wasche sich lieber selbst, als vergeblich auf Hilfe zu warten und besorge sich selbstständig Material wie Binden.
Die Heimleitung wies auf mehrfache Nachfragen alle Vorwürfe zurück. Probleme gebe es lediglich mit der Dokumentation, dies liege am Computersystem.
Dem BR liegt der Bericht der Heimaufsicht vom Kontrollbesuch im Juli 2019 vor. Daraus geht hervor, dass die Behörden bereits damals Pflegemissstände im Wohnstift Innblick feststellten. In dem Bericht werden Defizite aufgelistet wie verschmutzte Magensonden, mangelnde Hygiene, abgelaufene Medikamente, Desinfektionsmittel und Katheter, Bettgitter ohne richterliche Anordnung und zu wenige Fachkräfte. Auch damals fand die Heimaufsicht ungepflegte Bewohner vor, teils saßen die Menschen in ihren Ausscheidungen: "Die zahlreichen Mängel (…) zeigen deutlich das Fehlen von Pflegefachlichkeit auf."
Die Missstände, sagen Samuel und seine Kollegen, sind seit Jahren dieselben. Auch die Anrufe beim Pflege-SOS hätten unterm Strich nichts geändert. Samuel ist fassungslos: "Man fühlt sich machtlos mittlerweile. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das vielleicht nicht das einzige Heim ist mit katastrophalen Zuständen. Ich muss das so direkt sagen, man hat die Leute im Stich gelassen. Denn an den Zuständen hat sich nichts geändert."
Video: Pflege-SOS - Pflegeskandal trotz Reform
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