Im frühen Morgengrauen bricht die Thoraxchirurgin Gökçe Yavuz auf. Vom Münchener Klinikum Großhadern geht es mit ihrem Team in einem roten Transporter zum Flughafen - das Blaulicht liegt unter dem Sitz griffbereit. Gleich wird sie eine Lunge explantieren. Ihre Aufgabe: Die Lunge des Spenders, der vor wenigen Stunden einen Gehirntod erlitten hat, entnehmen und zur Implantation nach München bringen.
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Noch ist nicht sicher, ob die Lunge wirklich zum Empfänger passt. "Da muss man richtig entscheiden. Von dem her ist das schon eine große Verantwortung", sagt Gökçe Yavuz. Doch der Versuch ist es dem Chirurgen-Team wert - implantierbare Lungen sind selten. Nur wenige Stunden zuvor hat Yavuz die Nachricht erhalten, dass es einen potentiellen Spender gibt und jetzt muss alles schnell gehen. Die Operation soll in Kürze starten. Mit einem Charter-Flugzeug sind die Chirurgen europaweit unterwegs. Wo es genau hingeht, dürfen wir nicht sagen. Aus Datenschutzgründen darf niemand wissen, welches Spenderorgan zu welchem Empfänger geht. Ein fragiles Transportnetz aus Fahrern, Pilotinnen und Ärzten muss in den folgenden Stunden fein abgestimmt zusammenarbeiten, damit die Explantation gelingt. Gleich wird sich das entscheiden.
Video: Letzte Rettung Organtransplantation - zwischen OP und Transport
Immer weniger Organspender in Deutschland
Über 8.700 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Organ - in Bayern sind es etwa 1.200. Viele hoffen auf den lang ersehnten Anruf, dass die Operation starten kann. Eine davon ist Carina Mommaal aus München. Die Mutter von zwei Töchtern ist an Lymphangioleiomyomatose erkrankt, kurz LAM. Eine sehr seltene, chronische Lungenerkrankung. Sie führt dazu, dass sich Muskelzellen auf den Lungenbläschen bilden. Dadurch bekommt sie immer schlechter Luft.
"Eine Transplantation ist in meiner Situation das Prinzip Hoffnung und natürlich erhoffe ich mir davon Lebensqualität zurück. Die Transplantation nicht zu machen, ist keine Option", erzählt Carina im Interview mit Kontrovers – Die Story. Seit 2019 wartet sie bereits. Das Smartphone immer griffbereit. Der Anruf könnte zu jeder Tages- und Nachtzeit kommen. Doch die Entwicklung der Transplantationszahlen ist für sie ernüchternd. Denn in den vergangenen Jahren ist die Anzahl der Personen, die ein Organ gespendet haben, stark zurückgegangen. Das zeigt eine Auswertung der Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation.
Bayern plant Initiative zur Widerspruchslösung
Um etwas gegen den Organmangel zu tun, bringt die Politik derzeit die Widerspruchslösung ins Gespräch. Diese würde bedeuten: Jede Person in Deutschland wäre potenziell Organspender, außer sie lehnt diese explizit ab. 2020 hatte sich der Bundestag noch gegen eine solche Regelung entschieden. Nun sind sich sowohl der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD als auch der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek von der CSU einig: Die derzeitige Gesetzeslage ist gescheitert und die Widerspruchslösung soll her. Sie biete die Chance, dass mehr Menschen ein lebensrettendes Spenderorgan bekommen könnten.
Die Organspende wäre dann der Normalfall und nicht mehr der von einer ausdrücklichen Zustimmung abhängende Sonderfall, so Holetschek. Dafür sei mit anderen Ländern eine gemeinsame Bundesratsinitiative geplant, um diese Widerspruchslösung bundespolitisch zu thematisieren und so eine erneute Abstimmung im Bundestag zu ermöglichen. Doch das reiche bei Weitem nicht aus, meinen Kritiker wie der Sozialethiker Prof. Andreas Lob-Lüdepohl.
Widerspruchslösung "ein Ablenken vom Versagen der Politik"?
"Die Debatte um die Widerspruchslösung ist ein Ablenken vom eigentlichen Versagen der Politik und des öffentlichen Gesundheitsdienstes", so Prof. Andreas Lob-Hüdepohl im Interview mit Kontrovers - Die Story. Der Theologe und Sozialethiker ist Mitglied im Deutschen Ethikrat. Er sieht andere Gründe für den Mangel an Spendern: Die Transplantationsbeauftragten in den Kliniken müssten besser unterstützt werden. Unter anderem mit einem bundesweiten Register potentieller Spenderinnen und Spender, das auf der einen Seite die Bereitschaft dokumentiert und auf der anderen Seite den Bedarf in den Krankenhäusern. Die Einführung eines solchen Registers sei schon vor Jahren beschlossen worden, doch bisher sei nichts passiert.
Organspende-Register verzögert sich
Recherchen des BR-Politikmagazins Kontrovers zeigen: Tatsächlich sieht das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende seit März 2022 ein Online-Register für potentielle Spender vor. Das sogenannte Register für Erklärungen zur Organ- und Gewebespende (OGR). Doch das existiert immer noch nicht. Kontrovers fragt beim zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nach. Von dort heißt es: "Die erheblichen Projektverzögerungen wurden im Frühjahr 2022 von dem mit der Entwicklung des OGR beauftragten externen Dienstleister, der Bundesdruckerei GmbH, u.a. mit der Komplexität des Projekts begründet. (…) Die Aufnahme des Wirkbetriebs des OGR (kann) voraussichtlich im ersten Quartal 2024 erfolgen (…)."
Netzwerk der Transplantationsbeauftragten ausbaufähig
Prof. Andreas Lob-Lüdepohl macht das fassungslos. Die Debatte um die Widerspruchslösung führe weg vom eigentlichen Problem des fehlenden Registers. Außerdem fordert er höhere Vergütungen für Kliniken, die die Entnahme eines Organs möglich machen und eine Stärkung der Rolle der Transplantationsbeauftragten. Diese sollen sich in den Kliniken um den Organspendeprozess kümmern und zu mehr Achtsamkeit beim Erkennen potentieller Organspender beitragen. Sie werden per Gesetz für diesen Job freigestellt. Andreas Lob-Lüdepohl betont, wie wichtig ein bundesweites Transplantationsbeauftragten-Netzwerk sei. Auf die Förderung dieses Netzwerkes müsse sich die Politik verstärkt konzentrieren.
Deutsche Stiftung für Organtransplantation alarmiert
Die Deutsche Stiftung Organtransplantation bemängelt darüber hinaus die fehlende Aufklärungskultur beim Thema Organspende. Die Angehörigen Betroffener, die nicht mehr selbst entscheiden können, würden einer Organspende oft ablehnend gegenüberstehen. Deshalb sei es so wichtig, sich bei Lebzeiten mit dem Thema zu befassen. Die Entscheidung steht bisher noch jedem frei. Wer sich dafür entscheidet, Spender zu sein, sollte sich einen Organspendeausweis zulegen. Der lässt sich ganz einfach online ausfüllen und ausdrucken. Aber auch eine bessere Identifizierung potenzieller Spender spiele eine wichtige Rolle - hierbei würde das noch fehlende Register helfen.
Besonders gefragt sind in Deutschland Nieren. Danach folgen Leber, Herzen, Lungen und Bauchspeicheldrüsen. Insgesamt werden in Deutschland derzeit etwa 8.700 Organe benötigt.
Bis zu 100 Personen von Transport bis OP beteiligt
Zurück bei der Thoraxchirurgin Gökçe Yavuz. Gleich soll sie die Lungenexplantation durchführen. Ein Krankenhaus hat den Spender der Lunge gemeldet – bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Sie hat die Daten an die europaweite Plattform Eurotransplant weitergegeben. Hier sind Empfänger nach Dringlichkeit gelistet. Dann wurde das Transplantationszentrum am Münchner Klinikum Großhadern informiert, wer in Frage kommt. Das hat Gökçe Yavuz losgeschickt.
Mittlerweile ist sie mit ihrem Team am Klinikum angekommen, in dem die Explantation stattfinden soll. Insgesamt können beim Transport und im OP an die einhundert Menschen beteiligt sein.
Doch leider ist die Operation nicht erfolgreich. Grund dafür: Der Spender war starker Raucher. Die Lunge war stark mit Rußablagerungen belastet. Das macht eine Implantation unmöglich. Etwa jede fünfte Lungenexplantation führt nicht zur Implantation. "Leider kein erfolgreicher Tag. Die Qualität war nicht ausreichend", kommentiert die Thoraxchirurgin enttäuscht.
"Das ist natürlich frustrierend, wenn man jetzt weiß, dass ein Patient den Anruf bekommen hat, ins Krankenhaus gefahren ist und wahrscheinlich schon ins Nachthemd gepackt wurde, im Bett gewartet hat und schon allen erzählt hat, dass er ein Organ bekommt. Und dann wird das gecancelt und abgesagt." Jonas Gudera, Deutsche Stiftung Organtransplantation
Hoffnung auf das lebensrettende Organ nicht aufgeben
Der Einsatz zeigt: Der Organmangel in Deutschland ist so groß, dass mit viel Aufwand jedes Organ, das in Frage kommt, vor Ort genau untersucht wird – auch, wenn die Transplantierfähigkeit des Organs unsicher ist. Dieses Mal geht es leider ohne Lunge zurück nach München. Dort wartet Carina Mommaal weiter auf das rettende Organ. Sie versucht, die Hoffnung nicht zu verlieren: "Ich lebe mein Leben weiter – ich versuche es zumindest, soweit es geht." Ihr bleibt nur warten. Bis ihr eine neue Lunge hoffentlich Lebensqualität zurückbringt.
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