Es sind nur noch wenige Minuten bis zum Verhandlungsbeginn. Marion Tischler breitet ihre Unterlagen auf dem Tisch vor sich aus: das Strafgesetzbuch, dicke Aktenstapel. Sie ist Vorsitzende Richterin am Landgericht München II. Das Verfahren ist mitten in der Beweisaufnahme.
Zwei Brüder sind angeklagt. Es geht um Drogenhandel. "Es ist einer jener Fälle", sagt Tischler gegenüber BR-Kontrovers, "bei dem man sagt: mach dich frei von allen Vorurteilen. Geh rein und schau dir die Situation an, damit du den Leuten gerecht wirst". Denn die beiden Männer sind irakisch-kurdischer Abstammung. "Du kannst jedes Klischee walten lassen, wenn du willst", sagt Tischler. "Und genau das soll man nicht tun."
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Deutschlandweit werden 60.000 Schöffinnen und Schöffen gesucht
Tischler sagt ihren Schöffen das vor jedem Prozess. Nicht, weil sie ihnen misstraut oder etwas unterstellen möchte, sondern weil es ihr wichtig ist. Schließlich, findet sie, sei es ihre Aufgabe, in den Beratungen auf ein Urteil hinzuwirken, das auf dem Boden der Verfassung steht, das ohne Vorurteile zustande gekommen ist. Und die beiden Schöffen, mit denen sie zusammen das Urteil finden muss, könnten sie überstimmen. Bisher hat Tischler keine schlechten Erfahrungen gemacht – im Gegenteil. Sie arbeitet seit vielen Jahren gut mit Schöffen zusammen, erzählt sie.
Aber in diesem Jahr werden Schöffenposten neu bestimmt. Deutschlandweit werden 60.000 Posten vergeben, rund 5.000 davon in Bayern. Posten, auf denen über Recht und Unrecht, über Freiheit und Strafe entschieden wird. Posten, die offenbar genau deswegen interessant für Extremisten sind.
Extremistische Gruppierungen rufen zur Bewerbung auf
Der 17. Januar dieses Jahres: Die Kleinstpartei "Freie Sachsen" postet einen neuen Inhalt in ihre Telegram-Gruppe. Seit einem Jahr wird sie dort bundesweit schon vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall beobachtet. Die Partei schreibt an ihre Anhänger: "Jetzt als Schöffe bewerben, um die Justiz nicht den linken Hobby-Richtern zu überlassen." Und fügt später an: "Es ist eine Möglichkeit, die Justiz zu korrigieren: mitzuentscheiden, dass ein kriminalisierter Spaziergänger beispielsweise keine drakonische Strafe kriegt." Oder: "den grünen Richter zu überstimmen, der bei Neubürgern wieder einmal kulturellen Strafrabatt geben will."
Der 18. Februar: Auf Twitter meldet sich die Gruppierung "Freie Linke", eine Gruppe, die dem linken Spektrum derjenigen zugerechnet werden kann, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gegangen sind. Sie haben den Aufruf der Freien Sachsen gelesen und schreiben nun ihrerseits: Rechte und Rechtsextreme kämen viel zu leicht in das Amt. Aber auch Linksliberale. Das würde eine "grünbraune Gesinnungsjustiz" geben. Und sie enden mit den Worten: "Verhindert Cancel-culture-Justiz noch heute! Raus mit den grünen Kriegstreibern aus den Ämtern und Behörden!"
Könnten Extremisten mit ihren Aufrufen Erfolg haben?
Nicht alle Aufrufe sind so explizit mit politischen Forderungen verbunden. Ein Abgeordneter der AfD etwa informiert seine Anhänger bei Facebook über das Amt und schreibt groß: "Bewirb dich für das Schöffenamt." Ein Anwalt der Querdenker postet einen Link zur Schöffenwahl mit einigen Infos bei Telegram. Und der Vorsitzende der NPD gibt ein YouTube-Format heraus, in dem darüber diskutiert ist, wie sinnvoll es ist, Schöffe zu werden.
Es ist kein neues Phänomen, dass extreme oder extremistische Gruppierungen ihre Anhänger zur Bewerbung aufrufen. Schon 2018 haben das etwa Pegida oder die NPD getan. Der Bundesverfassungsschutz schreibt auf Anfrage des BR-Politikmagazins Kontrovers, dass sich die Lage im Vergleich zu 2018 nicht wesentlich verändert habe. Es handele sich um "einzelne Aufrufe".
Trotzdem bleibt die Frage: Könnten Extremisten mit diesen Aufrufen Erfolg haben?
"Die gesetzlichen Voraussetzungen sind keine große Hürde"
Freitagabend in Heilsbronn, im mittelfränkischen Landkreis Ansbach. Claudia Geißler-Kraft steht vor knapp zwanzig Personen. Sie ist selbst seit neun Jahren Schöffin. Heute möchte sie ihre Erfahrungen weitergeben, über die Aufgaben der Schöffen sprechen – und über das Bewerbungsverfahren. Hinter ihr wird gerade eine Präsentation an die Wand projiziert. "Voraussetzungen für das Schöffenamt", steht da. Viele Punkte sind auf der Folie nicht angeführt. "Also ich sage mal so," Geißler-Kraft blickt in die Runde vor sich. "Die gesetzlichen Voraussetzungen sind keine große Hürde."
Nur wenige Angaben sind für Bewerbung erforderlich
Tatsächlich will der Staat nicht viel über die Menschen wissen, die in seinem Namen Recht sprechen. Bewerber müssen lediglich ein Formular ausfüllen: Name, Alter, Beruf, Kontaktdaten. Wer möchte, kann seine Motivation angeben. Aber das ist freiwillig. Und dann muss er noch bei ein paar Aussagen ein Kreuz setzen, darunter diese:
- Ich bin in den letzten zehn Jahren nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe (auch nicht auf Bewährung) von mehr als sechs Monaten bestraft worden.
- Ich war nie hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR.
- Ich befinde mich nicht in der Insolvenz und habe auch keine Vermögensauskunft (früher: eidesstattliche Versicherung) über mein Vermögen abgegeben.
Absage an extremistische Vereinigungen
Geißler-Kraft hält jetzt ein Blatt in die Höhe: das Bewerbungsformular. Dann deutet sie auf eine zweite Seite. Die sei neu, meint sie. Bewerber in Bayern müssten seit diesem Jahr noch zwei weitere Kreuze setzen:
- Ich bin oder war kein Mitglied einer oder mehrerer extremistischer oder extremistisch beeinflusster Organisationen.
- Ich unterstütze keine extremistische(n) oder extremistisch beeinflusste(n) Organisation(en) oder andere verfassungsfeindliche Bestrebungen und habe solche auch in der Vergangenheit nicht unterstützt.
"Mangelnde Verfassungstreue ist gerade ein Thema", sagt Geißler-Kraft. Die Interessierten schweigen. "So richtig überprüft werden die Schöffen aber nicht. Noch ist es so, dass da die Verantwortung bei den Gemeinden und Kreisen liegt."
Zweistufiges Bewerbungsverfahren für Interessierte
Denn hier kommen alle Bewerbungen an – hier startet die erste Phase des Auswahlverfahrens. Das hat im wesentlichen drei Phasen, an denen auch Kontrollen der Bewerber möglich sind.
Zunächst stellen die Gemeinden Vorschlagslisten auf. "Hier kennen sie ja ihre Leute und sehen, wenn sich jemand Ungeeignetes bewirbt", sagen mehrere Justizmitarbeiter gegenüber BR-Kontrovers. Allerdings: In größeren Gemeinden oder Städten dürfte nicht jeder jeden kennen. Hinzukommt: Mindestens doppelt so viele Bewerber wie Posten müssen auf der Liste stehen. Und in den vergangenen Jahren hatten Kommunen immer wieder Probleme, die Listen zu füllen.
In einem zweiten Schritt werden diese Listen öffentlich ausgelegt. Jeder Bürger kann Einwände erheben – eine weitere Kontrollinstanz. Zusammen mit den Einwänden gehen die Listen dann an die Amtsgerichte, wo ein spezieller Wahlausschuss die zukünftigen Schöffen auswählt. In der Praxis ist dabei die größte Herausforderung, einen Querschnitt der Gesellschaft aus den Bewerbern auszuwählen.
Spätestens wenn die Schöffen gewählt wurden, sollten ihre Angaben auf dem Bewerbungsformular überprüft werden, etwa durch eine Abfrage beim Bundeszentralregister, bei Insolvenzgerichten oder beim Betreuungsregister. Einige Bundesländer schalten bei einem konkreten Verdacht auch den Verfassungsschutz ein, für alle Bewerber ist das allerdings nicht vorgesehen.
Immer wieder wurden Schöffen des Amtes enthoben
In der Vergangenheit sind so immer wieder Bürger Schöffen geworden, die dort eigentlich nicht sein sollten.
2016 wurde am Landgericht München I ein Schöffe aus dem Amt enthoben, weil er eine Reichsflagge auf seiner Terrasse hissen wollte. Die Bundesrepublik Deutschland war für ihn ein "Besatzungsregime", Geflüchtete nannte er "artfremde Ausländer". Die Rechtsprechung wollte er mit dem "Rechtsempfinden des Volkes" in Einklang bringen. An elf Verfahren war er in seiner Amtsperiode beteiligt.
2019 fiel ein Hilfsschöffe am Landgericht Regensburg auf. Er hatte sich auf Facebook geäußert. Hitlers Holocaust sei ein "Klacks" gewesen. Und dann schrieb er noch: "Zyklon B, Tabun, Sarin E605, Co2, Atemluft – GAS works." Die Gase wurden zum Teil während des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern zur millionenfachen Ermordung eingesetzt.
2021 stellte das Landgericht Amberg einen Antrag auf Amtsenthebung einer Schöffin. Für sie war Deutschland eine "Firma", der Rechtsstaat sei erloschen und die Mitglieder des Bundestags und des Bundesrates ohne Legitimation.
Politik will weniger Extremisten im Ehrenamt
Die Politik reagiert auf solche Vorfälle. Das Bundesjustizministerium plant, das Deutsche Richtergesetz anzupassen. Demnach darf niemand mehr als ehrenamtlicher Richter berufen werden, der nicht gewährleisten kann, verfassungstreu zu sein. Ansonsten gilt das Gericht als fehlerhaft besetzt, was dazu führen würde, dass seine Entscheidung angefochten werden könnte.
Zudem versuchen einige Bundesländer in Eigenregie vorzubeugen. In Bremen sollen alle Bewerber nun beispielsweise mit einfacher Recherche kontrolliert werden. Gibt es dann Anlass für Bedenken, soll der Verfassungsschutz den Bewerber durchleuchten. Niedersachsen wollte ähnlich vorgehen. Dort sollten Bewerber zustimmen, gegebenenfalls vom Verfassungsschutz überprüft zu werden. Aus zeitlichen Gründen soll dies allerdings noch einmal verschoben werden, teilt das Ministerium auf BR-Anfrage mit.
Das bayerische Justizministerium betont, man setze sich in vielfacher Hinsicht und mit besonderem Nachdruck dafür ein, "dass Schöffinnen und Schöffen fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen." Den Vorschlag des Bundesministeriums begrüße man, weil er die Anforderungen an die Verfassungstreue verschärfe.
Rechtsextreme haben schon erste Bewerbungen eingereicht
Zurück in München am Landgericht München II. Richterin Tischler hat inzwischen das Urteil gesprochen, ihre Robe abgelegt. Jetzt sitzt sie in Pulli auf dem Richterstuhl. Sie ist zufrieden. "Das System funktioniert", sagt sie. "Wir sprechen ja schließlich im Namen des Volkes. Und wenn da etwas wichtig ist, dann ist es Transparenz, die Leute sogar mitmachen lassen. Ich arbeite gerne mit Schöffen zusammen."
Dass sich das in der kommenden Amtsperiode ändern könnte, fürchtet sie nicht. Einerseits glaube sie nicht daran, dass viele Extremisten tatsächlich ins Amt kämen. Und andererseits, sagt sie und richtet sich auf: "Der muss dann erst mal mit mir diskutieren. Und das macht nicht immer Spaß." Außerdem müsse sich ein Urteil auch immer im Rahmen dessen bewegen, was das Gesetz vorgibt.
Wie viele Menschen den Aufrufen der extremistischen Gruppierungen folgen werden, ist unklar. In Bremen hat sich bereit ein Neonazi beworben und ein Unterstützer der Freien Sachsen hat noch am Tag des Telegram-Aufrufes gepostet, dass er sich beworben habe. Insgesamt haben die Aufrufe in den sozialen Medien mehrere tausend Menschen erreicht.
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