Es gibt viele Formen sexueller Gewalt. Allein in Bayern wurden laut polizeilicher Kriminalstatistik vergangenes Jahr 1.127 Frauen vergewaltigt. Das ist die Bilanz am heutigen Orange Day, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen - die Farbe symbolisiert dabei eine Zukunft ohne Gewalt an Frauen. Die Täter sind selten Fremde, aber häufig Familienangehörige oder Bekannte, sagt Maike Bublitz, Geschäftsführerin des Münchner Frauennotrufs. Die meisten Übergriffe finden Bublitz zufolge dort statt, wo Frauen sich eigentlich sicher fühlen sollten: zu Hause oder in der Arbeit.
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Natalia: Nach Vergewaltigung jahrelang geschwiegen
Natalia hat sich gegen ihren Vergewaltiger - einen Bekannten - gewehrt, auch körperlich. Und sie hat geschrien, doch es nützte nichts. Unmittelbar danach sei sie in eine Art Schockstarre gefallen. "Es hat sich angefühlt, als hätte sich der Körper vom Geist getrennt", erzählt die 31-Jährige. Sie wollte nur noch weg "von diesem Ort".
Zehn Jahre ist das jetzt her. Vier Jahre lang habe sie mit niemandem darüber gesprochen, distanzierte sich emotional von Eltern und Freunden. Dann litt sie an einer Depression, packte aus, machte eine Therapie. Am Ende hat ihr genau das geholfen, was sie so lange vermieden hat: über das Erlebte zu sprechen.
30 Jahre Münchner Frauennotruf: Sexualisierte Gewalt ist Alltag
Maike Bublitz, die Frauennotruf-Geschäftsführerin, hat einen Traum: dass es den Frauennotruf irgendwann nicht mehr braucht. Doch die Realität ist eine andere. Gerade feiert der Verein 30-jähriges Bestehen, und dringend gebraucht wird er noch immer. Im vergangenen Jahr haben knapp 2.000 Frauen aus München bei Bublitz und ihrem Team Hilfe gesucht.
In ganz Bayern würden über sechzig Prozent der Frauen regelmäßig sexuell belästigt, jede siebte Frau erlebe sogar sexuelle Gewalt. "Das sind nicht wenige, zählen Sie ihre Freundinnen", ordnet Bublitz diese Zahl ein. Die Dunkelziffer sei höher. Weil das Thema so schambehaftet sei, spreche aber nur jede zweite Frau über ihre Erlebnisse und nur jede zehnte bis zwanzigste Frau bringe die Tat zur Anzeige.
"Es geht niemals um Lust, sondern immer um Macht"
Zwar hätte die MeToo-Debatte einiges bewirkt: Frauen haben Bublitz zufolge ein anderes Selbstverständnis und es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, dass sexuelle Belästigung ein Problem ist. Doch die Fallzahlen seien nicht weniger geworden. "Dafür muss sich das Verständnis von Männlichkeit und die Darstellung der Frau ändern", sagt Bublitz.
Sexualisierte Gewalt sei eine extreme Form der Diskriminierung. "Es geht hierbei niemals um Lust, sondern immer um Macht", so Bublitz. "Vergewaltigung ist eine Form der Machtdemonstration und Unterdrückung."
Gesetzesverschärfung: "Ja heißt Ja" statt "Nein heißt Nein"
Bublitz und ihr Team fordern, dass der Paragraph 177 des Strafgesetzbuches verschärft wird – und zwar nach schwedischem Vorbild. Dort gilt seit 2018: "Ja heißt Ja". Die Frau muss also in irgendeiner Form ausdrücklich zustimmen, ansonsten kann der Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung eingestuft werden. Das Gesetz wurde damals kontrovers diskutiert - ebenso wie die Frage, was genau als Zustimmung gilt. Heute, vier Jahre später, hätten sich die Vergewaltigungs-Anzeigen vervierfacht.
Auch in Deutschland wurde vor sechs Jahren das Sexualstrafrecht reformiert. Seither gilt: "Nein heißt Nein". Eine Frau muss klarmachen, dass sie etwas nicht möchte. Setzt sich der Täter darüber hinweg, begeht er eine Straftat. Dies sei einerseits eine Errungenschaft, so Bublitz - aber andererseits problematisch.
Manche wehren sich, manche sind starr vor Angst
Einige Frauen würden sich zwar körperlich oder verbal wehren, erklärt Bublitz. Aber manche seien starr vor Angst und ließen die Vergewaltigung scheinbar teilnahmslos über sich ergehen. Auch gebe es Fälle, bei denen Frauen absichtlich nicht Nein sagten: bei häuslicher Gewalt. "Sie verhalten sich zum Schein entgegenkommend, um ihr eigenes Leben oder das der Kinder zu schützen." So seien "zahlreiche Gerichtsverfahren" eingestellt worden, weil den Richterinnen und Richtern das "Nein" nicht deutlich genug gewesen sei.
Bublitz habe das mehrfach erlebt: "Viele Frauen weinen bei einer Vergewaltigung - und es gibt Gerichtsurteile, die das Weinen nicht anerkannten.“
Sexuelle Gewalt: Schuld ist immer der Täter
Auch Natalia hat ihren Vergewaltiger nie angezeigt - aus Angst, "nicht genug Beweise zu haben". Trotzdem will sie heute mit ihrer Geschichte anderen helfen, Kraft geben und Mut machen, dass sie es schaffen können: "Selbst wenn da momentan nur ein Funken ist - den zu entfachen und zu sagen: Ich hole mir mein Leben zurück und meine Kontrolle - das ist das, was ich jeder wünsche." Sie selbst habe sich viel zu lange gefragt, ob sie etwas falsch gemacht hatte.
Eine Frage, die sich viele weibliche Opfer stellen, betont Maike Bublitz: "Keine Frau soll glauben, sie sei schuld an dem, was sie erlebt hat. Schuld ist immer der Täter."
Hilfsangebote für betroffene Frauen
Frauen in bedrohlichen Situationen sollten sich direkt an die Polizei (Tel.: 110) wenden. Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ist - in 17 Sprachen - unter der Nummer 0800-116016 zu erreichen. Hilfe bieten auch die Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Bayern sowie die Koordinierungsstelle für bundesweite Frauenhäuser.
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