Sozialministerin Ulrike Scharf: Lange hatte sie sich gegen eine zentrale staatliche Anlaufstelle für Missbrauchsopfer gewehrt
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Sozialministerin Ulrike Scharf: Lange hatte sie sich gegen eine zentrale staatliche Anlaufstelle für Missbrauchsopfer gewehrt

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Start der Anlaufstelle für Missbrauchsopfer: Fachleute verärgert

Sie hatten lange gekämpft für eine staatliche Stelle: Von sexuellem Missbrauch Betroffene im kirchlichen Bereich. Heute nun nimmt eine allgemeine Anlauf- und Lotsenstelle des Sozialministeriums die Arbeit auf. Kritik kommt von den Fachstellen.

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Niedrigschwellige Hilfe für Betroffene von sexuellem Missbrauch: darum geht es bei der neuen staatlichen Anlaufstelle. Besonders Opfer aus dem kirchlichen Kontext hatten sich für solch ein staatliches Angebot eingesetzt. Wir haben "monatelang gesprochen, Briefe geschrieben, sicher auch ein Stück weit dafür gekämpft", erinnert sich Richard Kick, einer der Sprecher der Betroffenenbeiräte in den bayerischen Diözesen. Nun gibt es zwar so eine Stelle, heute nimmt sie ihre Arbeit offiziell auf, glücklich ist Kick dennoch nicht.

Anlaufstelle für Betroffene aus allen Bereichen

Als sie sich vor mehreren Monaten an Ulrike Scharf gewandt hatten, da waren Richard Kick aus dem Betroffenenbeirat des Erzbistums München-Freising und seine Mitstreiter aus anderen Betroffenenbeiräten abgeblitzt. Die Sozialministerin hatte ihnen erklärt, es gebe in Bayern bereits genug Anlaufstellen für Betroffene, da brauche es nicht noch eine. Außerdem sei es Aufgabe der Kirche, sich zu kümmern.

Im BR24-Interview erklärt die Sozialministerin nun, sie habe eine staatliche Stelle abgelehnt, weil es in der Diskussion nur um Betroffene im Bereich der Kirche gegangen war. "Und wir haben Betroffene in den verschiedenen Bereichen, zum Beispiel Sport, Medien". Ihr ist wichtig zu betonen: "Diese Anlaufstelle können alle Betroffenen ab sofort nutzen."

Telefonische Beratung, digitaler Lotse

Die Anlaufstelle, die beim ZBFS in München - beim Zentrum Bayern Familie und Soziales - angesiedelt ist, kann digital und telefonisch erreicht werden. Auch anonym. Sieben Personalstellen, so das Ministerium, seien dem Projekt zugeordnet.

Von Montag bis Freitag sind unabhängige Ansprechpartner telefonisch erreichbar - unter anderem Psychologen und Pädagogen - und zwar unter der Telefonnummer: 089 / 88 9 88 9 22: Sie sollen Menschen unterstützen, die nicht die Energie oder das Know How haben, sich selbst Hilfe zu suchen. Zusätzlich dazu können sich Betroffene mit Hilfe eines digitalen Lotsen auf einer Homepage des Sozialministeriums unter der Adresse www.bayern-gegen-gewalt.de einen Überblick über Hilfsangebote verschaffen.

Vermittlung von Betroffenen - aber wohin?

Die Betroffenen sollen also weitervermittelt werden an entsprechende Einrichtungen, die über Bayern verstreut sind. Die in Frage kommenden Stellen wurden vor Kurzem auch vom Ministerium darüber informiert. "Mehrere Hunderte vielfältige Beratungs- und Unterstützungsangebote stehen im Freistaat zur Verfügung, die durch die neue Anlaufstelle gezielt vermittelt werden", heißt es seitens des Ministeriums.

Dem allerdings widersprechen die Praktiker. Gerade für Erwachsene, die in ihrer Kindheit missbraucht worden sind, gebe es recht wenige wirklich passgenaue Einrichtungen in Bayern. Kaum eine traue sich das "oft schambesetzte Thema" wirklich zu, sagt etwa Andreas Schmiedel. Er leitet eines dieser wenigen Angebote - die Fachstelle im Verein "Münchner Informationszentrum für Männer".

Lange Wartezeiten können Albtraum für Betroffene sein

Grundsätzlich begrüßt der Fachstellen-Leiter, dass der Staat nun aktiv eine Anlaufstelle für Missbrauchsbetroffene eingerichtet hat. Das Problem aus seiner Sicht: Das Projekt ist nicht zu Ende gedacht - es fehle schlichtweg das Geld. Es gebe keine Fachstellen, die ausreichend Personal, Zeit und Geld vorhalten könnten, um die möglicherweise durch die neue Anlaufstelle steigenden Anfragen bewältigen zu können, prophezeit er. "Was ein absoluter Albtraum ist, jemand nimmt die Hürde, sucht die Hilfe und bekommt dann eine Absage, weil nicht genügend Ressourcen vorhanden sind", so Schmiedel.

Die Sozialministerin kann die Sorge auf BR24-Nachfrage nicht ausräumen und verweist auf den Bedarf, der noch "unklar" sei. "Ich glaube entscheidend ist, dass wir jetzt starten und dass wir das permanent beobachten, wie sich die Anlaufstelle entwickelt". Und sie verspricht: "Ich werde alles dafür tun, dass Betroffenen geholfen wird".

Fachstellen fordern mehr Ressourcen von der Staatsregierung

Die politische Interessenvertretung der Fachstellen - die Bundeskoordinierungsstelle für spezialisierte Fachberatung (BKSF) - ist indes verärgert über den bayerischen Weg: Bevor man so eine Lotsenstelle einrichte, müsse sowohl "die Finanzierung und der flächendeckende bedarfsgerechte Ausbau der Fachstellen sichergestellt" werden, heißt es von der BKSF. Das aber sei im Freistaat nicht der Fall.

UBSKM-Betroffenenrat hätte sich stärkere Einbeziehung von Betroffenen gewünscht

Der Betroffenenrat der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) begleitet den Start der bayerischen Anlauf- und Lotsenstelle ebenfalls kritisch. Tamara Luding, bayerische Vertreterin in diesem Gremium, hätte sich gewünscht, dass auch Betroffene und Fachstellen mit ihrer Expertise eingebunden werden: und zwar "dauerhaft und strukturell". Ganz generell greift ihr die Stelle zu kurz. Sie stimmt ein in den Chor zahlreicher Experten, die schon seit längerer Zeit fordern, dass die bundesweiten Strukturen zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch und zur Unterstützung Betroffener auch auf die einzelnen Länder übertragen werden. Andere - etwa Baden-Württemberg, Thüringen und Rheinland-Pfalz - haben damit bereits begonnen. Bayern dagegen sendet bislang keine Signale in diese Richtung.

Kämpfer für die staatliche Anlaufstelle ist "nicht zufrieden"

Auch dem Betroffenenvertreter aus dem Erzbistum München-Freising, Richard Kick, auf dessen Drängen hin die Anlaufstelle nun starten wird, ist das aktuelle Angebot noch "zu dünn". Zumal bislang auch keine Kampagne vorgesehen ist, um Betroffene überhaupt auf das neue Angebot hinzuweisen. Auf die Frage, ob er nun enttäuscht sei, zuckt Richard Kick zunächst mit den Schultern, um dann zu sagen: "Zumindest nicht zufrieden". Er erwartet, dass die Anlauf- und Lotsenstelle nach und nach optimiert wird. Auch für ihn kann sie nur ein erster Schritt sein hin zu einem adäquaten Umgang des Staates mit dem gesellschaftlichen Mega-Thema sexueller Missbrauch.

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