Kathrin Neubauer steht in dem großen Klassenraum vor rund 100 Schülerinnen und Schülern in der Berufsschule Kaufbeuren. Die Krankenschwester hat ein Ziel: die Schüler zum Nachdenken anregen. Über Organspenden. "Um eins vorneweg zu schicken: Uns geht es nicht drum, euch jetzt zu überreden, dass ihr Organspender werdet. Eure Aufgabe ist: einfach das auf euch wirken lassen, über das Thema nachdenken und ein Mal zuhause mit der Familie oder mit euren Freunden darüber reden."
"Leben 2.0" soll über Organspende aufklären
Die Frage "Organspende - ja oder nein?" solle sich nicht erst stellen, wenn jemand hirntot auf der Intensivstation liegt, findet die Krankenschwester, die auf der Intensivstation im Kaufbeurer Klinikum arbeitet. Sie hat selbst schon erlebt, wie diese Frage die Angehörigen in so einer Ausnahmesituation überfordert. Deshalb hat sie das Projekt "Leben 2.0 on tour" ins Leben gerufen. Sie geht in Schulen und will junge Menschen auf dieses wichtige Thema aufmerksam machen.
Tabu-Thema Organspende
"Das Thema Organspende ist etwas, das man für die Zeit nach dem Tod entscheiden muss", sagt Kathrin Neubauer. Deshalb sei das für viele immer noch ein Tabu-Thema: "Man spricht da nicht drüber." Die Intensivkrankenschwester will die jungen Menschen daher von der Wichtigkeit des Themas überzeugen. "Die tragen es nach Hause. Die reden mit ihrer Familie und ihren Freunden darüber."
Unterstützung bei ihren Vorträgen in Allgäuer Schulen bekommt Kathrin Neubauer von Thomas Krauß aus Kammlach. Der 47-Jährige wartet seit fünf Jahren auf ein Spenderherz. Ein Kunstherz hält den Unterallgäuer derzeit am Leben. Sein eigenes hat nach einer verschleppten Bronchitis und einer Herzmuskelentzündung nicht mehr die Kraft dafür.
Thomas Krauß braucht ein neues Herz
Bei seinem Vortrag erzählt Thomas Krauß, wie seine Herzleistung im Alter von 36 Jahren plötzlich immer schlechter wurde. Es folgten Erstickungsanfälle, Herz-Rhythmus-Störungen, Herzkammerflimmern, Organversagen. 2018 war klar: Es geht so nicht weiter, er braucht ein neues Herz.
Während Thomas Krauß seine Geschichte erzählt, liegt eine kleine schwarze Tasche neben ihm auf dem Lehrerpult. Ein Schlauch führt von dort zu seinem Bauch und der Pumpe im Inneren seines Körpers. Die Tasche, in der das Steuerungsgerät und die Akkus für das Kunstherz stecken, ist sein täglicher Begleiter. 24 Stunden am Tag. "Ohne die Tasche funktioniert die Pumpe nicht. Und ohne die Pumpe kann ich nicht lange überleben“, sagt der 47-Jährige.
Seit fünf Jahren auf Warteliste für Spenderherz
Seit fünf Jahren steht Thomas Krauß auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Jeden Tag hofft der Unterallgäuer auf den einen entscheidenden Anruf aus der Uniklinik in München mit der Nachricht: "Wir haben endlich ein Spenderherz für Sie!". Dann müsste alles schnell gehen. Deshalb darf sich Thomas Krauß nur im Umkreis von 200 Kilometern um München herum aufhalten und muss immer erreichbar sein. "Großhadern hat im Ernstfall eine halbe Stunde Zeit zu entscheiden", sagt Thomas Krauß. "Wenn sie mich nicht erreichen, müssen sie das Herz ablehnen. Dann kriegt es ein anderer."
Organspenden können Leben retten - auch das von Thomas Krauß. Doch viel zu wenige Menschen in Deutschland haben sich entschieden, ob sie nach ihrem Tod Organe spenden würden oder nicht. Dabei kann ein Beschluss zu Lebzeiten diese schwierige Entscheidung den Angehörigen im Ernstfall abnehmen. Das wollen Thomas Krauß und Kathrin Neubauer den Schülern klarmachen. "Egal, ob ja oder nein – richtig und falsch gibt es nicht!", sagt Neubauer. "Aber wichtig ist die eigene Entscheidung. Und die muss dokumentiert werden."
Thema "Organspende" bewegt die Berufsschüler in Kaufbeuren
Zwei Stunden lang hören die Berufsschülerinnen und Berufsschüler dem Vortrag aufmerksam zu. Das Thema bewegt sie. "Es war sehr wichtig, dass wir darüber gesprochen haben", sagt Ali Kerdush. "Egal, ob man sich dafür entscheidet zu spenden oder nicht." Viele würden jetzt eher darüber nachdenken, ob sie "Ja" ankreuzen oder "Nein", vermutet seine Mitschülerin Nicole Diwisch.
Erst im Februar hat Kathrin Neubauer das Projekt "Leben 2.0 on tour" gestartet. In ihrer Freizeit setzt sich die alleinerziehende Mutter komplett ehrenamtlich dafür ein. Fast 1.000 Schüler hat sie mit Unterstützung von Thomas Krauß und der Uniklinik in Großhadern schon erreicht. Und der Einsatz lohnt sich: Die Nachfrage an den Schulen ist groß. "Mich überrollt das jetzt auch ein bisschen, dass das Projekt wirklich so viel Fahrt aufgenommen hat und so groß geworden ist", sagt die Intensiv-Fachpflegekraft. "Das ist einfach nur gut. Genial!"
- Zum Artikel: Organtransport: Ein Wettlauf gegen die Zeit
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