Atmungs-Training im Klinikum Ingolstadt.
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Nach der künstlichen Beatmung wieder selbstständig atmen lernen: Das ist im Weaning-Zentrum in Ingolstadt möglich.

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Weaning - Wenn die Lunge einen Coach benötigt

Menschen, die schwer erkranken, müssen häufig künstlich beatmet werden. Dann muss die Lunge lernen, wieder zu atmen. Weaning heißt dieser Prozess. Eine Herausforderung für alle. Im Ingolstädter Klinikum gibt es dafür ein spezielles Zentrum.

Im November hielt Ulrich Zecke aus Kaufbeuren einen positiven und einen negativen Schnelltest in den Händen. Nach einem PCR-Test die Klarheit: Corona – die Delta-Variante. Zunächst hatte der 53-jährige Familienvater keine Symptome gehabt. Doch am fünften Tag wachte er mit Atemnot auf. Und dann ging alles ganz schnell. Notarzt, Krankenhaus, Beatmung. Seine Sauerstoffsättigung im Blut lag bei nur noch 64 Prozent. Ab 88 wird es schon kritisch. Dann bekam er nicht mehr viel mit: künstliches Koma und die Verlegung ins Klinikum Ingolstadt. Dort war gerade ein Platz an einer ECMO, einer künstlichen Lunge, frei geworden. Sein Zustand: lebensbedrohlich. Die Ärzte kämpften um sein Leben, doch die Chancen sahen schlecht aus: Nur zehn Prozent Überlebenschance. Zahlreiche Komplikationen und Eingriffe folgten. Doch er schaffte es und blieb am Leben. Ende Januar wacht er auf. Der Weg zurück in eine normales Leben war aber lang.

Weaning – wieder Atmen lernen

Über 60 Tage war er an die ECMO angeschlossen, die sein Blut mit Sauerstoff anreicherte und es dann wieder zurück in den Körper schickte. Doch nach und nach sollte diese Aufgabe wieder seine Lunge übernehmen. Diesen Prozess nennt man Weaning. Aus dem Englischen übersetzt heißt das Entwöhnung – gemeint ist also die Entwöhnung von der künstlichen Beatmung. Und Ulrich Zecke hatte wieder Glück. In Ingolstadt gibt es eine spezielle Weaning-Einheit, einzigartig in der Region. Mittelfristig soll in Ingolstadt ein zertifiziertes Weaning-Zentrum entstehen. Durch die Zertifizierung soll ein verlässlicher Standard an Qualitätsmerkmalen erfüllt werden, dafür müssen Zentren beispielsweise eine bestimmte Anzahl an Patienten behandeln und deren Weaning-Prozess dokumentieren. Auch die Räumlichkeiten müssen spezielle Kriterien erfüllen, zum Beispiel Platz im Zimmer für Physiotherapie. Zertifizierte Zentren gibt es lediglich fünf in ganz Bayern. Drei davon befinden sich in München. Ingolstadt – in der Mitte Bayerns gelegen – sei deshalb ein guter Standort, meint Andreas Tiete, Geschäftsführer des Ingolstädter Klinikums. Denn laut Tiete steigt der Bedarf an Weaning – und das liegt nicht nur an Corona.

Steigender Bedarf an Weaning

Im Ingolstädter Weaning-Zentrum gibt es aktuell zwischen vier und sechs Plätze. Doch das Zentrum soll ausgebaut werden: Bis zu zwölf Patienten sollen in Zukunft dort behandelt werden können, berichtet Geschäftsführer Tiete. Ein großes Projekt, denn in der Weaning-Einheit arbeiten verschiedene Abteilungen und Bereiche eng zusammen und die müssen spezialisiert sein. In einer Weaning-Einheit arbeiten Ärzte aus verschiedenen Bereichen, Ergo- und Physiotherapeuten, Logopäden und Beatmungstherapeuten, sowie das Pflegepersonal Hand in Hand. Deshalb ist das Angebot für kleinere Krankenhäuser oft schwer zu realisieren. Doch der Bedarf steigt, meint Tiete. "Durch den medizinischen Fortschritt überleben immer mehr Menschen intensivmedizinische Behandlungen und werden wieder gesund, aber sie brauchen in den allermeisten Fällen ein Weaning." Das kann nach einem Schlaganfall, nach Unfällen oder Hirnblutungen sein. Bei Corona ist das Weaning allerdings eine ganz besondere Herausforderung, da die Viren die Lunge stark schädigen – wie bei Ulrich Zecke.

Intensive Betreuung der Patienten

Beatmungstherapeut und Pfleger Thomas Kemmetter hat Ulrich Zecke während seiner Zeit im Ingolstädter Klinikum intensiv betreut – auch während des Weaning-Prozesses. Sobald die Ursache der Beatmung behandelt ist, geht die Entwöhnung los. Nach der Beatmungsmaschine kommt die sogenannte druckunterstützende Beatmung, diese kann individuell auf den Patienten eingestellt werden. Im nächsten Schritt folgen dann spontane Atemversuche ohne maschinelle Unterstützung. Die zeitlichen Abstände werden dann immer größer, bis die Maschine nicht mehr gebraucht wird. Je nachdem, wie lange der Patient beatmet wurde und wie seine körperliche Verfassung ist, geht dieser Prozess mal schneller, mal langsamer.

Für Beatmungstherapeut Thomas Kemmetter ist es eine Freude, seinen ehemaligen Patienten Ulrich Zecke wiederzusehen. Das letzte Mal ging er noch am Rollator: "Es ist ein riesiger Motivationsschub, ihn zu sehen, dass er mir jetzt mit großen Schritten entgegengeht, das ist schon ein Glückgefühl."

Langer Weg zurück ins Leben

Ulrich Zecke hat quasi ein zweites Leben geschenkt bekommen. Sein Alltag ist zwar noch immer von den Folgen der Covid19-Erkrankung geprägt, aber er ist unglaublich froh: "Die Dankbarkeit kann man mit Worten nicht beschreiben, das ist der Wahnsinn, dass ich noch hier sein darf, dass ich noch leben darf." Immer wieder hatte er sich kleine Ziele gesteckt und die dann auch erreicht, Aufgeben war nie eine Option, meint er. Im September will er wieder langsam mit Arbeiten anfangen. Und kleinere Wünschen hat er auch: "Ich möchte mal wieder auf den Berg rauf. Wenn ich es zu Fuß nicht schaffe, dann halt mit der Bergbahn."

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