Die fünf ersten Jahre des Lebens sind prägend, und die meisten Kinder verbringen diese wohlbehütet in ihrer Familie. Anders ist das im Fall eines fast fünfjährigen Kindes aus dem Landkreis Dillingen. Von den leiblichen Eltern kam es ins Kinderheim, dann zu Pflegeeltern und nun wieder ins Heim. Der Fall wirft Fragen auf – nicht zuletzt danach, wer darüber entscheidet, was das Beste für ein Kind ist.
Säugling wird schwer misshandelt – Jugendamt schreitet ein
Es ist Ende Januar 2018, als das Jugendamt zum ersten Mal von dem damals gerade einmal sechs Wochen alten Säugling erfährt. Einem aufmerksamen Kinderarzt fallen zahlreiche Hämatome am ganzen Körper des Kindes auf. Er schickt die Eltern zur Abklärung in die Augsburger Uniklinik, wo das Kind zehn Tage lang stationär behandelt wird. Erstmals steht der Verdacht der Kindswohlgefährdung im Raum, das Jugendamt wird informiert.
Nur neun Tage später sind die Eltern erneut in einer Klinik. Die Diagnose diesmal: Oberschenkelhalsbruch und Schädelfraktur. Wieder folgt ein stationärer Klinikaufenthalt. Die Ärzte gehen davon aus, dass die Verletzungen durch äußere Einwirkung entstanden sind. Die Kripo Dillingen nimmt zwar Ermittlungen auf, das Verfahren wird aber eingestellt, weil sich keines der Familienmitglieder wirklich erinnern kann oder will. Die Mutter willigt allerdings ein, das Kind ins Heim zu geben – und behält das alleinige Sorgerecht.
Kind kommt ins Heim und zu Pflegeeltern
13 Monate wird das Kind im Heim in Gundelfingen bleiben. Mit einem Jahr und drei Monaten kommt es dann in eine Pflegefamilie im Landkreis Dillingen. Die Landwirtsfamilie hat bereits ein weiteres Mädchen zur Pflege und einen leiblichen Sohn. Das Kind lebt sich – auch laut Jugendamt – gut ein, entwickelt ein inniges Verhältnis zur Pflegefamilie.
Gleichzeitig bleibt der Kontakt zu den leiblichen Eltern und der Oma erhalten. Zwei Mal pro Monat gibt es diesen sogenannten Umgang mit ihnen. Zweieinhalb Jahre werden die Besuche von Mitarbeitern des Kinderschutzbundes begleitet. Sie beschreiben später, dass die Pflegeeltern den Kontakt zu den leiblichen Eltern mit viel Engagement unterstützt hätten. Von Seiten der leiblichen Eltern sei der Kontakt schleppend gewesen. Die Großmutter habe sich dagegen sehr um das Vertrauen ihrer Enkelin bemüht.
Unterbringung bei Pflegeeltern vom Jugendamt über Jahre positiv bewertet
Auch das Jugendamt beurteilt die Unterbringung in der Pflegefamilie positiv. Noch im März dieses Jahres sieht es das Amt als die für das Alter "geeignete Form der Unterbringung, um eine weitere positive Entwicklung zu gewährleisten". Das Mädchen sei bei der Pflegefamilie voll integriert und erfahre eine "liebevolle Erziehung". Dass sie sich so gut entwickle, sei auf die "gute und gezielte Förderung der Pflegefamilie zurückzuführen", schreibt das Jugendamt in seinem Bericht. Eine Änderung wird allerdings vereinbart: Die Großmutter darf das Mädchen nun auch ohne Begleitung sehen, der Umgang mit den leiblichen Eltern soll intensiviert werden. Die leibliche Mutter ist mit der Unterbringung in der Pflegefamilie weiter einverstanden.
Leibliche Familie meldet mehr Ansprüche an
Doch dann ändert sich offenbar die Stimmung: Die geplante Intensivierung läuft nicht so, wie es sich die Herkunftsfamilie wünscht. Die Großmutter sagte dem BR, die Art und Häufigkeit der Umgänge habe sie nicht befriedigt. Unter anderem kommt es nicht zu einer geplanten Übernachtung, weil das Mädchen krank wird. Laut einem ärztlichen Attest ist das Kind nicht transportfähig. In der Folge entzieht die Kindsmutter ihr Einverständnis zur Unterbringung bei den Pflegeeltern. Ein runder Tisch soll die Situation klären, aus terminlichen Gründen wird er aber verschoben. Mitte Oktober wird der Ersatztermin angesetzt – doch bevor es dazu kommt, verändert sich die Situation grundlegend.
Jugendamt kommt unvermittelt
Ende September werden die Pflegeltern vormittags informiert, dass Mitarbeiter des Jugendamtes noch am selben Tag vorbeikommen werden. Erst nach hartnäckigem Nachfragen erfährt der Pflegevater laut eigener Aussage, warum: Man wolle das Mädchen aus der Pflegefamilie nehmen. Warum, habe man ihm nicht gesagt. Das habe sie völlig unvermittelt getroffen, sagt die Pflegemutter.
Genau so passiert es dann auch nur eine halbe Stunde später, so der Pflegevater. Ein Handwerker, der zufällig vor Ort war, beschreibt die Szene gegenüber dem BR als furchtbar: Das Mädchen habe geweint, sei im Hof herumgerannt, dann auch zum Opa gelaufen und habe gerufen "Opa, hilf mir". Eine Stunde habe es gedauert, bis die Pflegeeltern das Mädchen hätten überzeugen können, mit den Mitarbeitern des Jugendamtes mitzufahren. Auch ein Richter wird später feststellen, dass die Pflegeeltern kooperativ waren. Das zweite Pflegekind der Familie muss die Szenen miterleben. Das Mädchen leidet seitdem unter depressiven Verstimmungen, Schlafstörungen und einer Essstörung.
Was passiert ist, hat sich auch im Dorf schnell herumgesprochen. Andere Mütter sind entsetzt, sie hätten die Pflegefamilie immer als äußerst liebevoll, niemals übergriffig und sehr engagiert erlebt. Das Mädchen sei ihren Kindern eine liebe Spielfreundin und werde im Kindergarten sehr vermisst.
Pflegekind wieder im Kinderheim
Die inzwischen fast Fünfjährige lebt nun wieder im Heim. Dort habe sie sich sehr gut eingelebt, heißt es auf BR-Nachfrage. Da das Kind seine ersten Lebensmonate hier verbracht habe, sei die Umgebung nicht fremd. Die Pflegeeltern dürfen das Mädchen, das dreieinhalb Jahre bei ihnen war, alle zwei Wochen für eine Stunde im Heim besuchen. Schon mehrfach habe sie bei diesen Besuchen gefragt, wann sie wieder in die Pflegefamilie zurückdürfe, berichten die Pflegeeltern. Das Mädchen sei viel unruhiger, habe zu stottern begonnen, trage nachts wieder eine Windel - so ihre Beobachtung. Telefonieren darf nur die Pflegeschwester mit ihr.
Das Jugendamt begründet die Unterbringung im Heim damit, dass die Kindsmutter und ihr Prozessbevollmächtigter einen Antrag auf Änderung der Hilfeform gestellt hätten. Das Kind sei einem wachsenden Loyalitätskonflikt ausgesetzt gewesen, wodurch die Beziehung zur Herkunftsfamilie belastet worden sei. Konkrete Beispiele für diesen Konflikt nennt das Amt in seiner Begründung nicht. Ziel sei eine "realistische Perspektivenklärung", also wann und ob das Kind zur Herkunftsfamilie zurück kann. Das Kindswohl sei durch den Wechsel ins Heim nicht gefährdet. Offen bleibt, warum man die Pflegeeltern nicht darauf vorbereitet hat.
Gericht lehnt Eilantrag der Pflegeeltern ab
Die Pflegeeltern gehen gegen die Entscheidung vor – allerdings erst, nachdem auch der zweite Runde Tisch abgesagt wurde. Da ist das Mädchen schon zwei Wochen im Heim und genau damit begründet das Gericht die Ablehnung des Eilantrags. Das Kind zeige nach einigen Wochen im Heim keine Auffälligkeiten. Daraus könne man schließen, dass das Kindeswohl nicht beeinträchtigt sei. Das Kind kenne die Umgebung außerdem aus seinen ersten Lebensmonaten. Den Pflegeeltern sei der Verlust des Kindes zuzumuten, da die Pflege immer nur auf Zeit angelegt sei.
Der Anwalt der Pflegefamilie, Andreas Woidich, widerspricht dem vehement: Nach der Meinung des auf Kindschaftsrecht spezialisierten Anwalts aus Fürth hätte das Jugendamt die Frage, ob durch die von der sorgeberechtigten Mutter geforderte anderweitige Unterbringung das Kindeswohl gefährdet sei, bereits vor der Herausnahme durch das Gericht prüfen lassen müssen. Das Amt habe hier eine Wächterfunktion. Das Kind habe in der Zeit bei den Pflegeeltern eine enge Bindung zu der Familie entwickelt. Nun sei es nach dreieinhalb Jahren unvermittelt aus seiner gewohnten Umgebung gerissen worden, das könne durchaus als dramatische Erfahrung für das Kind gewertet werden. Der Anwalt der Pflegeeltern hat Beschwerde gegen das Urteil eingereicht. Die Sache wird demnächst vor dem Oberlandesgericht verhandelt werden.
Psychologe widerspricht Jugendamt
Der Berliner Psychologe Fabian Schottky, mehrere Jahre lang im Bereich der ambulanten Familienhilfe tätig, wertet das mindestens als negativ prägendes Erlebnis, wenn nicht sogar traumatisches Ereignis. Angst, Unverständnis, Verwirrung, Wut und Traurigkeit seien hier die zu erwartenden Gefühle bei dem betroffenen Kind. Das sei so, wie wenn dem Kind – und den Pflegeeltern – ein Stück vom Herz herausgerissen werden würde, sagt er gegenüber dem BR. Nach mehrfacher mutmaßlicher Misshandlung in den ersten Lebenswochen sei dem Mädchen wiederum jegliche Sicherheit genommen worden. Das Kind lerne jetzt vor allem, dass es keine Kontrolle über das eigene Leben habe. Rechte hätten solch junge Kinder kaum.
Andere Pflegeeltern bestürzt
Der Fall wird unter Pflegeeltern in der Region intensiv diskutiert. Dass die leiblichen Eltern weiterhin das Sorgerecht haben, ist keine Seltenheit. Einige Pflegeeltern fragen sich deshalb jetzt: Kann mir das auch passieren? Laut Jugendamt ist eine Unterbringung bei Pflegeeltern in der Regel eine Unterbringung auf Zeit. 58 Kinder und Jugendliche werden derzeit im Landkreis Dillingen in Pflegefamilien betreut. Immer wieder werden neue Pflegeeltern gesucht. Bei einem Treffen von Pflegeltern Mitte November dankte Landrat Müller diesen für ihren "unermüdlichen Einsatz" und dafür, dass sie ihren Pflegekindern "Haus und Herz" öffneten.
Dilemma: Bindung aufbauen – Distanz wahren
Genau das hätten sie getan, sagt die betroffene Pflegefamilie und fragt sich, was sie falsch gemacht haben. Auf die Frage des Mädchens, warum sie zwei Mamas habe, hätten sie ihr erklärt: Es gebe eine Bauchmama und eine Herzensmama. So sei ihnen das in den Pflegeelternkursen erklärt worden. Jetzt werde ihr genau diese Aussage vorgeworfen, erzählt die Pflegemutter unter Tränen.
Auch langjährige Mitarbeiter des Kinderschutzbundes sehen das Dilemma: Das Ziel sei es, zu den Kindern eine Bindung aufzubauen und gegenseitiges Vertrauen. Trotzdem sollten die Pflegeeltern Distanz wahren, meint etwa Gunde Hartmann, die schon seit 30 Jahren für den Kinderschutzbund arbeitet. In vielen Fällen würden die Kinder zum Opfer der Erwachsenen, nicht selten deshalb, weil die nicht miteinander redeten. Im Fall des fast fünfjährigen Mädchens muss nun das Oberlandesgericht entscheiden.
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