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Verdachtsberichterstattung – was dürfen Journalisten?

Verdachtsberichterstattung – was dürfen Journalisten?

Nach der SZ-Recherche zu Hubert Aiwanger und dem antisemitischen Flugblatt aus der Schulzeit ist die bayerische Landespolitik in Aufruhr. Grundlage ist zum Teil eine sogenannte Verdachtsberichterstattung. Die ist unter bestimmten Umständen erlaubt.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Der bayerische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Hubert Aiwanger steht im Verdacht, als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst und (…) ausgelegt zu haben." So beginnt die Süddeutsche Zeitung ihren Artikel vom vergangenen Samstag, der seitdem die Landespolitik in Atem hält. Anfangs dementierte der Freie-Wähler-Chef den kompletten Sachverhalt; später räumte er ein, das Flugblatt in seinem Schulranzen gehabt zu haben und von der Schule diszipliniert worden zu sein; dann gab sein Bruder bekannt, Verfasser der Hetzschrift gewesen zu sein. Das Ganze, begleitet von zahlreichen politischen Reaktionen bis hin zu einem Statement des Bundeskanzlers, gipfelte vorerst in einem Sonderkoalitionsausschuss der Staatsregierung.

  • Zum Artikel: "Aiwanger in Sondersitzung - Ergebnisse, offene Fragen"

Quellen bleiben anonym

Basis der politischen Verwerfungen bleibt die veröffentlichte Recherche der Süddeutschen Zeitung. Unbestritten sind dabei die Existenz und der Inhalt des antisemitischen Hetzblatts. Bis dahin handelt es sich noch nicht um eine Verdachtsberichterstattung. Erst bei der Zuschreibung der Autorschaft des Flugblatts beruft sich die Zeitung auf rund "zwei Dutzend Personen", mit denen sie gesprochen habe. Aus diesen Aussagen ergibt sich für die Rechercheure ein Gesamtbild, zusammengefügt zum dann publizierten Verdacht, "Aiwanger sei als Urheber dieses Pamphlets zur Verantwortung gezogen worden".

Dass die Quellen namentlich aus Sorge vor möglichen dienstrechtlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen nicht genannt werden wollen, spielt für den Wahrheitsgehalt keine Rolle. Journalisten müssen ihre Quellen kennen, sie aber auch maximal schützen.

Bedingungen für Verdachtsberichterstattung

Natürlich dürfen Journalisten nicht grundlos Vorwürfe gegenüber einer Person erheben. Das Persönlichkeitsrecht ist stark geschützt. Das bedeutet, dass eine Verdachtsberichterstattung an zahlreiche Bedingungen geknüpft ist. Tobias Gostomzyk, Professor für Medienrecht an der Technischen Universität Dortmund, erläutert diese im Gespräch mit BR24. Demnach muss es vor allem hinreichend Substanz für einen Verdacht geben, dieser dürfe nicht aus der Luft gegriffen sein. Darüber hinaus müsse der Verdacht deutlich als solcher kenntlich gemacht werden, mit Formulierungen im Konjunktiv oder einschränkenden Adjektiven wie "mutmaßlich". Ganz wichtig: Die Person, gegen die die Vorwürfe erhoben werden, muss vor der Publikation Gelegenheit haben, Stellung zu nehmen. Außerdem darf die Berichterstattung nicht vorverurteilen.

Abwägung: Berichterstattungsinteresse gegen Persönlichkeitsrecht

Selbst wenn dies alles erfolgt ist, müssen seriös arbeitende Journalisten immer noch abwägen zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit an dem Vorfall und den Persönlichkeitsrechten des Betroffenen. Dabei geht es zum Beispiel auch darum, ob der Name einer Person, die in Verdacht gestellt wird, genannt wird. Das wiederum hänge von der Schwere des Vorwurfs ab und der öffentlichen Bedeutung der Person, sagt Tobias Gostomzyk. Und er hält fest, dass bei "Politikern diese Bedeutung regelmäßig als sehr hoch einzustufen ist".

Recht auf Vergessen

Rund 36 Jahre liegt im Fall Aiwanger das Verfassen und die Verteilung des antisemitischen Hetzblatts zurück. Also der Gegenstand der Berichterstattung. Unter anderem deswegen kritisiert Timo Rieg in seinem medienkritischen Blog "SpiegelKritik" die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung. Ihm fehle die Relevanz, so Rieg, da das Blatt aus seiner Sicht nicht begründet habe, warum das Flugblatt heute noch eine Rolle spiele.

Tatsächlich komme dem "Recht auf Vergessen" mit Blick auf das Persönlichkeits- und Datenschutzrecht eine zunehmend größere Bedeutung zu, insbesondere mit Blick auf Internet-Suchmaschinen, sagt Medienrechtler Gostomzyk. Er verweist aber überdies auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach auch über lange zurückliegende Ereignisse berichtet werden darf, wenn genügend Anknüpfungspunkte gegeben sind. Im Fall Aiwanger spreche aus seiner Sicht viel dafür.

Berichterstattung kurz vor der Wahl

Von verschiedenen Seiten kritisiert wird der Zeitpunkt der SZ-Publikation kurz vor der Wahl.

So schreibt zum Beispiel Carsten Brennecke, Rechtsanwalt für Presserecht, auf dem Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter), dass sich die Frage stelle, ob die Berichterstattung bewusst kurz vor der Landtagswahl in Bayern platziert worden sei.

Rechtlich habe das keine Relevanz, sagt Tobias Gostomzyk im Gespräch mit BR24. Zwar liege es auf der Hand, dass die Berichterstattung eine Form der politischen Einflussnahme sein könnte. Aber gerade durch die herausgehobene politische Position Hubert Aiwangers sei es gerechtfertigt, den Wählerinnen und Wählern die Information eben nicht vorzuenthalten und nicht erst nach der Wahl zu berichten.

Im Video: Die Causa Aiwanger dominiert die Schlagzeilen

28.08.2023, Schwandorf - Hubert Aiwanger auf einem Wahlplakat der Freien Wähler. Der Termin für die 19. Landtagswahl ist der 8. Oktober 2023.
Bildrechte: BR/Marcel Kehrer
Audiobeitrag

Hubert Aiwanger Wahlplakat 2023

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