Politiker aller demokratischer Parteien von Bundespolitik über Landes- und Europapolitik eint eine Sorge: Die jüngsten Angriffe auf Politiker und Wahlhelfer stellen für sie eine große Gefahr für die Demokratie dar – darin sind sie sich einig.
Parteiübergreifend haben daher mehr als 100 Politiker von SPD, Grünen, Linken sowie der Union die sogenannte "Striesener Erklärung" unterschrieben, dort heißt es: "Wir stehen geschlossen und gemeinsam gegen die immer weiter eskalierende Gewalt gegen politisch engagierte Menschen im öffentlichen Raum."
Auslöser hierfür war der Angriff auf den SPD-Spitzenkandidaten, Matthias Ecke, im Dresdner Stadtteil Striesen. Er wurde niedergeschlagen, schwer verletzt und musste operiert werden. Zuvor gab es einen Angriff auf Wahlhelfer der Grünen.
Gewalt als Alltag in der Politik: Grüne und AfD im Fokus
Das sind keine Einzelfälle: Übergriffe gehören für alle Parteien zum Alltag, wie Zahlen der Bundesregierung zeigen. Die AfD hatte eine entsprechende Anfrage gestellt.
Dabei wird deutlich: Die Zahl der gesamten Übergriffe auf Parteienvertreter – also sowohl physische wie verbale Attacken – hat sich von 2019 bis 2023 fast verdoppelt (2019: 1.420; 2023: 2.790). Gab es zu Beginn der aktuellen Wahlperiode vermehrt Angriffe gegen die AfD, hat sich das geändert: Jetzt sind vor allem die Grünen das Ziel von Attacken. Die vorläufigen Zahlen von 2023 zeigen: Mehr als 1.200 Attacken gab es gegen die Grünen, bei der AfD waren es rund 480 Fälle. In rund 420 Fällen war die SPD betroffen. Zahlen aus diesem Jahr gibt es noch nicht. Zu den Angriffen zählen Fälle, die gemeldet wurden – darunter auch Beleidigungen.
Laut der vorläufigen Zahlen für 2023 gab es mit 86 gemeldeten Fällen die meisten Gewaltdelikte gegen die AfD. Gefolgt von 62 gemeldeten Gewaltdelikten gegen die Grünen. Bei den Äußerungsdelikten gab es 2023 vorläufig die meisten verbalen Angriffe gegen Grüne mit 947, gefolgt von SPD (293), FDP (266) und AfD (236).
Angriffe auf Politiker und Wahlstände
Prominentestes Beispiel ist ein Vorfall von Anfang des Jahres: Damals wurde Vize-Kanzler Robert Habeck von den Grünen von Demonstrierenden daran gehindert, seine Fähre zu verlassen.
Nach einer Veranstaltung Anfang Mai in Brandenburg wurde das Auto der Vizepräsidentin des Bundestags, Katrin Göring-Eckhardt, von Demonstrierenden bedrängt – sie hinderten die Grünen-Politikerin an der Abfahrt.
Doch nicht nur Spitzenpolitiker stehen im Fokus: Im Februar wurde das Haus eine Thüringischen SPD-Kommunalpolitikers in Brand gesetzt. Immer wieder werden in ganz Deutschland Wahlkreisbüros attackiert. Bei einer Veranstaltung der AfD in Thüringen wurden die Schlösser der Eingangstüren verklebt. In Dresden wurde jetzt ein Wahlkampfstand der AfD angegriffen.
Politikwissenschaftler: "Was wir jetzt erleben, darf nicht normalisiert werden"
Swen Hutter ist Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, forscht unter anderem zu Protesten und beobachtet eine Zuspitzung der Gewalt, wie er im BR24-Interview sagt: Zwar nehmen Angriffe in Zeiten von Wahlkämpfen zu – "was wir jetzt aber erleben, darf nicht normalisiert werden." Hutter spricht von einem "polarisierten Umfeld" in den letzten Jahren. Krisen und Kriege führten zu einer "emotional aufgeladenen Stimmung" in der Gesellschaft – aber auch im politischen Diskurs. Der Ton wurde auch bei Politikern "gerade aus dem rechten Spektrum und der AfD schärfer in den letzten Jahren."
Hutter teilt die Befürchtung vieler Politiker, dass die Demokratie gefährdet sei. Der Politikwissenschaftler macht sich vor allem hinsichtlich des lokalen Raums Sorgen. Anders als Spitzenpolitiker haben Lokalpolitiker keinen Personenschutz. Die Folge: "Es wird ein Klima geschaffen, wo sich Menschen zweimal überlegen, ob und wie sie sich engagieren." Der Angriff auf den SPD-Europaabgeordneten Ecke hat deutschlandweit für Entsetzen gesorgt. Menschen sind in Berlin und Dresden auf die Straße gegangen, um für Demokratie und gegen Gewalt zu demonstrieren – das sieht Swen Hutter positiv.
"Hartes Durchgreifen gegen Feinde der Demokratie": Wie geht es jetzt weiter?
Nach den Angriffen werden die Rufe nach Konsequenzen lauter. Mehr Polizei auf den Straßen, an Wahlkampfständen und Veranstaltungen: Das verlangt auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die SPD-Politikerin will sich am Dienstag mit den Innenministerinnen und Innenministern der Bundesländer treffen und beraten, was nach den Angriffen zu tun ist. Sie spricht von einem "Maßnahmenpaket" mit mehr Polizeipräsenz und einem harten Durchgreifen gegen Feinde der Demokratie.
Vieles, was besprochen werden wird, dürfte bekannt sein: Mitte Februar hatte Faeser bereits ein Paket gegen Rechtsextremismus vorgestellt – darunter Projekte, die teils seit längerer Zeit nicht vorankommen, wie beispielsweise das sogenannte Demokratiefördergesetz, das eine langfristige Förderung von Demokratieprojekten ermöglichen soll.
Parteien im Superwahljahr: Wahlkampfschulungen und Gruppenbildung
Für Bundesjustizminister Marco Buschmann geht es jetzt nicht darum, härtere Strafen auf den Weg zu bringen. Der FDP-Politiker will, dass bestehende Gesetze konsequent umgesetzt werden. Wenn Täter ermittelt und bestraft werden, würde das Nachahmer am meisten abschrecken.
Die Parteien stellen sich im Superwahljahr – angefangen mit der Europawahl Anfang Juni und den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Herbst – darauf ein, die Sicherheit zu erhöhen: Ortsverbänden wird geraten, jeden Wahlstand bei der Polizei anzumelden. Künftig wollen die Parteien tagsüber mehr Leute zum Plakatieren von Wahlplakaten losschicken. Einige Parteien, wie beispielsweise die Grünen, bieten Wahlkampfschulungen an, um gegen Hass im Netz und auf der Straße gewappnet zu sein.
Im Video: Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl über Gewalt gegen Politiker
Disclaimer: Wir haben die Zahlen detaillierter ergänzt und in körperliche und verbale Angriffe aufgesplittet.
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