Immer wieder weinten Demonstrierende. Trauer, Wut und Angst begleiten die tschetschenische Community in Österreich.
Bildrechte: BR/Anna Feininger

Immer wieder weinten Demonstrierende. Trauer, Wut und Angst begleiten die tschetschenische Community in Österreich.

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Auftragsmorde in Österreich? Tschetschenen fürchten um ihr Leben

Die tschetschenische Community zählt seit 2001 in ganz Europa mindestens 16 ermordete tschetschenische Geflüchtete. Unter den Tschetschenen in Österreich geht die Angst um. Sie demonstrieren vor der russischen Botschaft in Wien.

Ein Wochenende Anfang Juli 2020: In Gerasdorf bei Wien wird ein 43-jähriger gebürtiger Tschetschene auf offener Straße erschossen. Der inzwischen als Martin B. bekannte lebte seit 2005 in Österreich, war anerkannter Konventionsflüchtling, geflohen aus einem Land, das gerade einmal so groß ist wie Oberbayern. Der mutmaßliche Schütze war ebenfalls geflohener Tschetschene und wurde nach einer Verfolgung in Linz festgenommen. Ein zweiter Mann galt zunächst noch als Zeuge, wurde aber als möglicher Komplize festgenommen, nachdem er sich in seinen Aussagen verstrickte.

16 Tschetschenen wurden in Europa ermordet

In Österreich ist es schon der zweite Mord an einem Tschetschenen. In Frankreich wurde erst im Februar 2020 ein regierungskritischer tschetschenischer Blogger tot in seinem Hotelzimmer gefunden. Im vergangenen Sommer wurde im Berliner Tiergarten ein Tschetschene georgischer Staatsangehörigkeit erschossen. Die tschetschenische Community zählt seit 2001 in ganz Europa mindestens 16 ermordete tschetschenische Geflüchtete. Unter den Tschetschenen in Österreich geht die Angst um, was sie auf einer Demonstration vor der russischen Botschaft in Wien zum Ausdruck brachten.

Zufluchtsort Österreich

Schätzungen des österreichischen Innenministeriums zufolge leben etwa 30.000 Tschetschenen in Österreich. Der ermordete Martin B. war einer von ihnen. Wie viele genau es sind, kann niemand sagen, denn offiziell werden sie als Staatsangehörige der russischen Föderation geführt. Denn Tschetschenien ist eine autonome Republik in Russland. Das heißt: Sie darf sich zwar selbst verwalten, aber die Gesetze Russlands gelten dort.

In Österreich lebt die größte tschetschenische Diaspora in Europa. Warum gerade in Österreich weiß der Politologe Thomas Schmidinger. Die Anerkennungsquoten seien hier besser gewesen als z.B. in Deutschland:

„Und deshalb sind damals, da es hier schon eine kleine Community gab, und da die Anerkennungsquoten für die Asylbewerber relativ hoch waren, sind dann immer mehr neue dazugekommen.“ Thomas Schmidinger, Politologe

ie meisten kamen vor eineinhalb Jahrzehnten, kurz nach dem zweiten Tschetschenienkrieg, 1999-2009. Russische Truppen marschierten ein und der Krieg mit Russland forderte tausende Tote. Sein Ende machte die letzten Ambitionen des Landes zunichte, von Russland unabhängig zu werden. Während der Auseinandersetzungen mit Moskau gab es massive Menschenrechtsverletzungen. Unter anderem dokumentiert von der 2008 ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja.

Tschetschenen bleiben aus Angst lieber unter sich

Viele Tschetschenen flohen also aus Angst vor politischer Verfolgung nach Europa. Diese tschetschenische Community in Österreich ist sehr gut miteinander vernetzt, bleibt lieber unter sich, erzählen Tschetschenen dem ARD-Studio Wien. Und das ist auch die Einschätzung von Experten wie Thomas Schmidinger. Einerseits gehe das auf das traditionelle Gesellschaftsmodell der Tschetschenen zurück. Andererseits seien sie auch durch ihre Geschichte der Verfolgung und gemeinsame traumatische Erfahrungen verbunden.

„Wenn man (…) das Gefühl hat: es ist nicht so sicher, ob ich in meinem neuen Land ökonomisch, sozial und politisch ankomme, dann braucht man eben andere Menschen, die hier sind, und das sind nun einmal andere Tschetscheninnen und Tschetschenen“ Thomas Schmidinger, Politologe
Bildrechte: privat/Thomas Schmidinger
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Thomas Schmidinger ist Politologe an der Uni Wien und beschäftigt sich in seinen Forschungen mit dem Nordkaukasus. Darunter: Tschetschenien.

Bereits der zweite Auftragsmord in Österreich?

War die Erschießung von Martin B. ein politischer Auftragsmord, vielleicht sogar auf Anweisung von Ramsan Kadyrow, der Kritiker mundtot machen möchte? Oder doch nur ein eskalierter Streit? Darauf wollen sich die niederösterreichischen Ermittler bislang nicht festlegen. Die Tatverdächtigen schweigen und damit ist auch das Motiv bislang unklar. Die tschetschenische Community in Österreich ist sich aber sicher, dass es ein Auftragsmord war. Denn der erschossene Martin B. hat auf YouTube immer wieder regierungskritische Videos veröffentlicht, in denen er Ramsan Kadyrow offen angegriffen hat. Damit habe er möglicherweise auf sich aufmerksam gemacht, schätzt Thomas Schmidinger weiter:

„In diesem konkreten Fall handelt es sich ja beim Mordopfer um einen ehemaligen Kadyrowszy, also jemanden, der mit Kadyrow kooperiert hat. Und der sich dann gegen ihn gewendet hat. Ganz besonders solche Personen werden natürlich vom tschetschenischen Regime als Verräter betrachtet. Und auch wenn man das jetzt im derzeitigen Stand der Ermittlungen noch nicht zweifelsfrei beweisen kann, ist die Vermutung, dass hier das tschetschenische Regime dahintersteckt – allein schon wegen der Beschimpfungen, die das Mordopfer gegen Kadyrow öffentlich mit Videos ins Netz gestellt hat, eine die auf jeden Fall naheliegend ist. Aber bewiesen werden muss das natürlich erst und da sind jetzt die Behörden am Zug.“ Thomas Schmidinger, Politologe

Immer wieder hat Martin B. Todesdrohungen erhalten. Jetzt ist er tot. Erschossen, am helllichten Tag vor einem Baumarkt in Gerasdorf bei Wien. Die niederösterreichische Polizei hat seine Wohnung überwacht, ihm Personenschutz angeboten. Unbegründet ist diese Sorge laut Thomas Schmidinger nicht gewesen denn: „Es ist definitiv so, dass die Kadyrowszy, also diese Anhänger und Schlägertypen des tschetschenischen Diktators Kadyrow auch ihre Strukturen in Mittel- und Westeuropa haben, dort, wo eine tschetschenische Diaspora existiert. Und dass Kadyrow und seine Umgebung daran interessiert sind, hier weiterhin Angst und Schrecken zu verbreiten, in dem Sinn, dass sie auch disziplinierend wirken.“

Die Tat löst Angst aus, bei tschetschenischen Flüchtlingen. Angst, dass sie selbst nach der Flucht noch in Gefahr sein könnten. Der tschetschenische Exil-Politiker Khuseyn Iskhanov ist Obmann des Vereins Ichkeria in Wien und hatte zu der Demonstration vor der russischen Botschaft aufgerufen.

„Russland tötet uns!“ – Demonstration von Tschetschenen in Wien

Im Juli 2020 versammeln sich über 80 Tschetscheninnen und Tschetschenen vor der russischen Botschaft in Wien. Sie tragen Transparente, auf denen steht „Wer ist der Nächste?“ und „Heute Tschetschenien … Morgen Europa?“ und skandieren in Anspielung auf die Unterstützung Ramsan Kadyrows durch den russischen Präsidenten Vladimir Putin minutenlang „Putin Terrorist“, „Russland tötet uns!“ Zwei Stunden lang verlesen die Demonstrierenden Forderungen und teilen persönliche Erfahrungen und Sorgen. Auf Deutsch, Englisch, Russisch aber auch Tschetschenisch. Damit alle sie hören und verstehen.

„Politische Morde in Europa, gesteuert von einer Diktatur in Tschetschenien, sowas ist nicht akzeptabel.“ Eine Demonstrantin in Wien

Viele von ihnen haben Angst – um das Leben ihrer Angehörigen in Tschetschenien, aber auch um ihre eigene Sicherheit in Europa. Eine Demonstrantin sagt: „Angst haben wir schon, aber es ist halt sehr wichtig, dass sich Tschetschenen hier versammeln.“

Bildrechte: BR/Anna Feininger
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Ein Demonstrant trägt die Namen und Todesjahre jener Tschetschenen mit, die seit 2001 in Europa ermordet wurden.

„Wir sind vor vielen Jahren aus Tschetschenien hierher geflüchtet, weil wir dort nicht in Sicherheit leben konnten. Wir sind hier nach Österreich geflüchtet, in der Hoffnung, dass wir hier Sicherheit kriegen, dass wir hier ein freies Leben führen können. Und wenn man sich die Situation jetzt ansieht, wenn man sich die Liste der Namen ansieht, von den Männern, die getötet wurden, dann kann man sehen, dass das nicht der Fall ist. Dass man hier nicht sicher ist.“ Demonstrationsteilnehmer

Ihre Sorge, auf europäischem Boden und trotz in Österreich geltender Freiheiten und Rechte selbst eines Tages ins Visier geraten zu können, habe Kalkül, analysiert Thomas Schmidinger. Jeder Mord sei auch eine Nachricht an die Community. Die Folge sei nicht nur Angst, sondern auch Selbstzensur. Deswegen sei die Aufklärung dieser Morde sehr wichtig.

Auftragsmorde in Österreich?

Zumal es nicht der erste mögliche Auftragsmord in Österreich ist. Im Januar 2009 wurde Umar Israilow in Wien ermordet. Er hatte den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow beschuldigt, ihn gefoltert zu haben. Er hatte ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angestrebt und sollte laut Staatsanwaltschaft daraufhin von Wien nach Tschetschenien entführt werden. Die Staatsanwaltschaft Wien hielt es für möglich, dass die Tat vom tschetschenischen Machthaber Kadyrow in Auftrag gegeben wurde.

Demonstranten fordern Aufklärung

Die Demonstranten vor der Russischen Botschaft fordern deshalb auch in einer Resolution, die sie unter anderem an das österreichische Innen- und Außenministerium geschickt haben, Sicherheit für politische Geflüchtete aus Tschetschenien. Und eine strafrechtliche Aufklärung des Mordes an Martin B.. Sie sprechen dabei Österreich an, aber auch ganz Europa.

Kadyrow weist Vorwürfe zurück und droht Auslands-Tschetschenen

Nur wenige Tage nach der Demonstration weist der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow alle Vorwürfe im Zusammenhang mit einem möglichen Auftragsmord zurück. Über seinen Telegram-Channel schreibt er, der ermordete 43-Jährige aus Gerasdorf bei Wien sei Opfer von Geheimdiensten geworden, die diese Tat Kadyrow und Russland anheften wollten. Zugleich warnte er Tschetschenen überall – und das klang wie eine Drohung: „Werdet nicht zu Marionetten, kümmert euch um eure Familien. Sonst wird euch auch solch ein Schicksal ereilen und beschuldigt werden Kadyrow und sein Trupp.“

Russisches Aussenministerium reagiert

Auch das russische Außenministerium bezieht Stellung, nachdem der Fall europaweite Aufmerksamkeit erregt. Ein Kreml-Sprecher nimmt Kadyrow in Schutz, bezeichnet die Vorwürfe gegen ihn als unlogisch.

Ende Juli taucht im Internet ein Video auf. Es soll Verwandte und Bekannte des Anfang Juli bei Wien ermordeten Martin B. zeigen und ist an Ramsan Kadyrow gerichtet. Das dreiminütige Video wurde vom Tschetschenischen ins Russische übersetzt und demnach distanzieren sie sich von dem ermordeten Martin B., übernehmen die Schuld an seinem Tod und entschuldigen sich sogar bei Kadyrow für Martin B.. Videos, in denen Bewohner Tschetscheniens sich selbst beschuldigen, gehören seit Jahren zum politischen Alltag in Tschetschenien und hätten System, sagt Thomas Schmidinger: „Das ist ein Staat der massiv von Repression, Erpressung und von mafia-artigen Strukturen dominiert ist.

Verwandte werden unter Druck gesetzt

Es ist auch durchaus möglich, dass tatsächlich Verwandte unter Druck gesetzt werden, einerseits sowas zu behaupten, um andere in Schutz zu nehmen“. Es sei sogar möglich, dass Leute so stark unter Druck gesetzt würden, dass sie Familienmitglieder töten würden: „Die Situation in Tschetschenien ist so, dass jeder der sich dem Regime entgegenstellt damit rechnen muss nicht nur selbst, sondern auch möglicherweise seine Familie zu gefährden.“

Das Video fließe in die Ermittlungen ein, hieß es auf Anfrage des ARD-Studios Wien bei der zuständigen Landespolizeidirektion in Niederösterreich. Es sei jedoch zum jetzigen Zeitpunkt schwierig einzuschätzen und zu bewerten.

Die tschetschenische Community in Österreich hofft indes auf Aufklärung.

„Wir wollen, dass die österreichische Regierung endlich irgendwelche Maßnahmen unternimmt, dass diese politischen Killeraktionen aufhören.“ Tschetschenischer Demonstrant