Ende Januar hatte der frühere Papst Benedikt XVI. bereits eine wesentliche Aussage zum Münchner Missbrauchsgutachten korrigiert. Entgegen seiner bisherigen Darstellung habe er doch an der Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen.
In einem am Dienstag veröffentlichen Brief wiederholt Benedikt, dass es sich um ein Versehen gehandelt habe:
"Bei der Riesenarbeit jener Tage – der Erarbeitung der Stellungnahme – ist ein Versehen erfolgt, was die Frage meiner Teilnahme an der Ordinariatssitzung vom 15. Januar 1980 betrifft. Dieser Fehler, der bedauerlicherweise geschehen ist, war nicht beabsichtigt und ist, so hoffe ich, auch entschuldbar." Der emeritierte Papst Benedikt XVI. in seinem Brief vom 6.2.22
Bei der betreffenden Ordinariatssitzung im Januar 1980 ging es darum, den Priester Peter H. (im Gutachten als Priester X. aufgeführt) aus der Diözese Essen in München aufzunehmen. In seiner ersten Stellungnahme im Rahmen der Anhörung, die im WSW-Gutachten aufgenommen wurde, hatte Benedikt XVI. bestritten, an der Sitzung teilgenommen zu haben, obwohl er im Protokoll zitiert wurde.
Die Ordinariatssitzung gilt als zentral für den späteren Einsatz des wegen Pädophilie vorbestraften Priesters H. in Gemeinden des Erzbistums München und Freising, wo er dann wieder Kinder missbrauchte.
Vorwurf, dass Versehen ausgenutzt worden sei
Es habe ihn tief getroffen, dass an ihm gezweifelt wurde, schreibt Benedikt in der nun in Rom veröffentlichten Stellungnahme.
"Dass das Versehen ausgenutzt wurde, um an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, ja, mich als Lügner darzustellen, hat mich tief getroffen." Der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Schreiben vom 6.2.22
Um so bewegender seien für ihn viele unterstützende und ermutigende Worte gewesen. Eine "kleine Gruppe von Freunden" habe ihm geholfen, das fast 1.900 Seiten umfassende Gutachten zu analysieren.
Benedikt XVI. räumte eine Mitschuld der kirchlichen Verantwortlichen ein, wehrte sich gleichzeitig gegen den Vorwurf, als Erzbischof von München (1977-1982) Missbrauchsfälle vertuscht zu haben. Auch habe er in seiner Einlassung zu dem Ende Januar veröffentlichten Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) weder getäuscht noch gelogen.
Benedikt bittet Missbrauchsopfer um Entschuldigung
Wie bei seinen früheren Begegnungen mit Menschen, die von Priestern sexuell missbraucht wurden, könne er jetzt nur noch einmal "meine tiefe Scham, meinen großen Schmerz und meine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Mißbrauchs zum Ausdruck bringen".
Der emeritierte Papst hat alle Opfer von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche um Entschuldigung gebeten. Gleichzeitig wies der frühere Erzbischof von München und Freising aber konkrete Vorwürfe aus dem jüngst veröffentlichten Münchner Missbrauchsgutachten zurück.
Empörung und Frust bei Mitglied des Betroffenenbeirats
Die Stellungnahme Benedikts löse bei ihm "zutiefst Empörung und noch mehr Frust" aus, sagt Richard Kick, Mitglied im Betroffenenbeirat der Erzdiözese München, im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk. Die Betroffenen würden abgespeist, während Benedikt sich selbst beweihräuchere. Der emeritierte Papst hatte sich zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche und deren Vertuschung gerechtfertigt, "dass wir selbst in diese übergroße Schuld" hineingezogen werden. Allerdings übernimmt er als ehemaliger Erzbischof von München und Freising keine Verantwortung für Fälle, in denen Missbrauchstäter wieder in der Seelsorge eingesetzt wurden.
In einem von Benedikts Rechtsbeiständen formulierten Faktencheck wird festgehalten, dass das Münchner Missbrauchsgutachten "keinen Beweis für einen Vorwurf des Fehlverhaltens oder der Mithilfe bei einer Vertuschung" enthalte. Dadurch werde die Verantwortung geleugnet, die ein Bischof in der katholischen Kirche habe, sagt Christian Weisner von der Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche". Benedikt habe es versäumt, an seinem Lebensende ein Signal zu setzen, dass er als Bischof Verantwortung übernehme.
Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch" enttäuscht und wütend
Die Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch" ist enttäuscht und wütend über den Brief von Papst Benedikt XVI. zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. "'Schmerz und Scham' - Betroffene können es nicht mehr hören", teilte die Initiative am Dienstag mit. Das Statement des ehemaligen Papstes Benedikt reihe sich ein in die permanenten Relativierungen der Kirche in Sachen Missbrauch: Vergehen und Fehler seien geschehen, doch niemand übernehme konkret Verantwortung, beklagt die Initiative.
Kirchenrechtler Schüller: Benedikt drückt sich um Verantwortung
Der Kirchenrechtler Thomas Schüller hat die Erklärung des emeritierten Papstes als unzureichend kritisiert. Dass er seine Scham ausspreche, sei gut und wichtig, sagte Schüller am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. "Was fehlt aber? Dass er sagt: 'Ich entschuldige mich und ich übernehme Verantwortung für die schlimmen Fehler, die in Sachen Umgang mit sexuellem Missbrauch in meiner Zeit als Erzbischof von München-Freising gemacht wurden.'"
Benedikt spreche zwar von Fehlern und Vergehen, aber er rechne sie sich nicht selbst an. "So als hätten anonym bleibende Mächte und Gewalten im Erzbistum München-Freising diese Fehler gemacht, nicht aber er", kritisierte Schüller, der an der Universität Münster das Institut für Kanonisches Recht leitet. So übernehme er erneut keine persönliche Verantwortung und ziehe keine persönlichen Konsequenzen, "außer sich der barmherzigen Liebe Gottes anzuempfehlen". Das werde, so Schüller, die Überlebenden sexualisierter Gewalt erneut traumatisieren, denn ihnen widerfahre keine Gerechtigkeit.
Dass Benedikt eine Falschaussage zur Teilnahme an einer Sitzung gemacht habe, werde von ihm als Bagatelle heruntergespielt. Das sei es aber nicht: "Es war und bleibt eine Unwahrheit, die er mit seiner Unterschrift zu verantworten hat", sagte Schüller.
Kardinal Marx begrüßt Stellungnahme
Der Münchner Kardinal Reinhard Marx hat die Stellungnahme des emeritierten Papstes begrüßt. Der frühere Erzbischof von München und Freising bringe darin seine "tiefe Scham", seinen "großen Schmerz" und seine "Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Missbrauchs zum Ausdruck", erklärte Marx am Dienstag in München.
Zugleich betonte der Kardinal erneut, die Erzdiözese und er selbst als Erzbischof nähmen das Gutachten, "in dem es besonders im Blick auf die Leitungsebene auch um persönliche und institutionelle Verantwortung geht, sehr ernst". Die Empfehlungen der Gutachter würden zusammen mit dem Betroffenenbeirat und der Unabhängigen Aufarbeitungskommission aufgegriffen.
Bischof Bätzing: Benedikt XVI. "gebührt Respekt"
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, hat die persönliche Stellungnahme des emeritierten Papstes Benedikt XVI. und dessen Entschuldigung an die Missbrauchsopfer begrüßt. Benedikt habe zugesagt sich zu äußern und das nun eingelöst, twitterte der Bischofskonferenz-Vorsitzende am Dienstag. "Dafür bin ich dankbar und dafür gebührt ihm Respekt."
Fehler zu Sitzungsangabe bereits vorher eingestanden
Die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) hatte für ihr Missbrauchsgutachten auch den früheren Papst Benedikt XVI. zu seiner Zeit als Münchner Erzbischof (1977-1982) befragt. Dieser gab zunächst an, er habe an einer Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 nicht teilgenommen. Diese Darstellung hat er Ende Januar korrigiert. Der Fehler sei "Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung". Dies tue ihm "sehr leid", und er bitte, dies zu entschuldigen.
- Zum Artikel: Benedikt XVI. korrigiert Aussage zum Missbrauchsgutachten
Gutachter bekundeten Zweifel an Papst-Aussagen
Die unabhängigen Gutachter der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl hatten Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt und 235 Täter zwischen 1945 und 2019 im Erzbistum gefunden. Dem emeritierten Papst Benedikt XVI. werfen die Gutachter in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising Verfehlungen in vier Fällen vor. Zudem bekundeten die Gutachter erhebliche Zweifel an seinen Aussagen zu einem besonders brisanten Fall eines pädophilen Wiederholungstäters. Der 94-Jährige bestritt die Vorwürfe in einer dem Gutachten beigefügten 82-seitigen Stellungnahme.
Der vollständige Brief des ehemaligen Papstes im Wortlaut:
Benedictus XVI, Papa emeritus, Vatikanstadt, 6. Februar 2022
"Liebe Schwestern und Brüder!
Nach der Vorstellung des Mißbrauchs-Gutachtens für die Erzdiözese München und Freising am 20. Januar 2022 drängt es mich, ein persönliches Wort an Sie alle zu richten. Denn wenn ich auch nur knapp fünf Jahre Erzbischof von München und Freising sein durfte, so bleibt doch die innere Zugehörigkeit mit dem Münchener Erzbistum als meiner Heimat inwendig weiter bestehen.
Zunächst möchte ich ein Wort herzlichen Dankes sagen. Ich habe in diesen Tagen der Gewissenserforschung und Reflexion so viel Ermutigung, so viel Freundschaft und so viele Zeichen des Vertrauens erfahren dürfen, wie ich es mir nicht hätte vorstellen können. Besonders danken möchte ich der kleinen Gruppe von Freunden, die selbstlos für mich meine 82-seitige Stellungnahme für die Kanzlei verfaßt hat, die ich allein nicht hätte schreiben können. Es waren über die von der Kanzlei mir gestellten Fragen hinaus nahezu 8.000 Seiten digitale Aktendokumentation zu lesen und auszuwerten. Diese Mitarbeiter haben mir nun auch geholfen, das fast 2.000-seitige Gutachten zu studieren und zu analysieren. Das Ergebnis wird im Anschluß an meinen Brief auch veröffentlicht.
Bei der Riesenarbeit jener Tage – der Erarbeitung der Stellungnahme – ist ein Versehen erfolgt, was die Frage meiner Teilnahme an der Ordinariatssitzung vom 15. Januar 1980 betrifft. Dieser Fehler, der bedauerlicherweise geschehen ist, war nicht beabsichtigt und ist, so hoffe ich, auch entschuldbar. Das habe ich bereits in der Pressemitteilung vom 24. Januar 2022 durch Erzbischof Gänswein mitteilen lassen. Es ändert nichts an der Sorgfalt und an der Hingabe an die Sache, die den Freunden selbstverständliches Gebot war und ist. Daß das Versehen ausgenutzt wurde, um an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, ja, mich als Lügner darzustellen, hat mich tief getroffen. Um so bewegender sind für mich die vielfältigen Stimmen des Vertrauens, herzlichen Zeugnisse und berührenden Briefe der Ermutigung, die mich von sehr vielen Menschen erreicht haben. Besonders dankbar bin ich für das Vertrauen, für die Unterstützung und für das Gebet, das mir Papst Franziskus persönlich ausgedrückt hat. Endlich möchte ich noch eigens der kleinen Familie im Monastero „Mater Ecclesiae“ danken, deren Mitsein in frohen und schwierigen Stunden mir jenen inneren Zusammenhalt gibt, der mich trägt.
Dem Wort des Dankes muß aber nun auch ein Wort des Bekenntnisses folgen. Es berührt mich immer stärker, daß die Kirche an den Eingang der Feier des Gottesdienstes, in dem der Herr uns sein Wort und sich selbst schenkt, Tag um Tag das Bekenntnis unserer Schuld und die Bitte um Vergebung setzt. Wir bitten den lebendigen Gott vor der Öffentlichkeit um Vergebung für unsere Schuld, ja, für unsere große und übergroße Schuld. Mir ist klar, daß das Wort „übergroß“ nicht jeden Tag, jeden einzelnen in gleicher Weise meint. Aber es fragt mich jeden Tag an, ob ich nicht ebenfalls heute von übergroßer Schuld sprechen muß. Und es sagt mir tröstend, wie groß auch immer meine Schuld heute ist, der Herr vergibt mir, wenn ich mich ehrlich von ihm durchschauen lasse und so wirklich zur Änderung meines Selbst bereit bin.
Bei all meinen Begegnungen vor allem auf mehreren Apostolischen Reisen mit von Priestern sexuell mißbrauchten Menschen habe ich den Folgen der übergroßen Schuld ins Auge gesehen und verstehen gelernt, daß wir selbst in diese übergroße Schuld hineingezogen werden, wenn wir sie übersehen wollen oder sie nicht mit der nötigen Entschiedenheit und Verantwortung angehen, wie dies zu oft geschehen ist und geschieht. Wie bei diesen Begegnungen kann ich nur noch einmal meine tiefe Scham, meinen großen Schmerz und meine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Mißbrauchs zum Ausdruck bringen. Ich habe in der katholischen Kirche große Verantwortung getragen. Umso größer ist mein Schmerz über die Vergehen und Fehler, die in meinen Amtszeiten und an den betreffenden Orten geschehen sind. Jeder einzelne Fall eines sexuellen Übergriffs ist furchtbar und nicht wieder gut zu machen. Die Opfer von sexuellem Mißbrauch haben mein tiefes Mitgefühl und ich bedauere jeden einzelnen Fall.
Immer mehr verstehe ich die Abscheu und die Angst, die Christus auf dem Ölberg überfielen, als er all das Schreckliche sah, das er nun von innen her überwinden sollte. Daß gleichzeitig die Jünger schlafen konnten, ist leider die Situation, die auch heute wieder von neuem besteht und in der auch ich mich angesprochen fühle. So kann ich nur den Herrn und alle Engel und Heiligen und Euch, liebe Schwestern und Brüder, bitten, für mich zu beten bei Gott unserem Herrn.
Ich werde ja nun bald vor dem endgültigen Richter meines Lebens stehen. Auch wenn ich beim Rückblick auf mein langes Leben viel Grund zum Erschrecken und zur Angst habe, so bin ich doch frohen Mutes, weil ich fest darauf vertraue, daß der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitten hat und so als Richter zugleich auch mein Anwalt (Paraklet) ist. Im Blick auf die Stunde des Gerichts wird mir so die Gnade des Christseins deutlich. Es schenkt mir die Bekanntschaft, ja, die Freundschaft mit dem Richter meines Lebens und läßt mich so zuversichtlich durch das dunkle Tor des Todes hindurchgehen. Mir kommt dabei immer wieder in den Sinn, was Johannes in seiner Apokalypse am Anfang erzählt: Er sieht den Menschensohn in seiner ganzen Größe und fällt vor ihm zusammen, wie wenn er tot wäre. Aber da legt er seine Hand auf ihn und sagt: „Fürchte dich nicht, ich bin es...“ (vgl. Apk 1, 12 – 17).
Liebe Freunde, in diesem Sinn segne ich Euch alle.
Benedikt XVI."
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