Auf den Staat kann man nicht zählen. Das steht für Rexhep Sejdiu fest. „Hätten wir uns auf ihn verlassen, wäre das eine Katstrophe gewesen, das habe ich gemerkt“. Der 16-Jährige mit den kurzen dunklen Haaren steht mit seinem Vater vor dem Haus der Familie in Podujevo, rund 30 Kilometer nördlich der Hauptstadt Prishtina. Das Gespräch mit einem Bekannten dreht sich mal wieder – um Arbeit. Schon vor der Pandemie lebte die Familie Sejdiu von der Hand in den Mund, doch Corona bricht Tagelöhnern wie Nexhmedin Sejdiu endgültig das Kreuz, erzählt der Familienvater.
"Jeden Tag gehe ich mit den Jungen raus und warte auf der Straße, bis ich zu körperlicher Arbeit gerufen werde. Wir arbeiten sieben bis acht Stunden damit wir 20 Euro verdienen. Das passiert ein bis zwei Mal in der Woche. Wir wissen nicht was wir mit dem Geld abdecken sollen. Wir sind viele in der Familie, die Kinder gehen in die Schule. Es gibt einfach zu viele Kosten." Nexhmedin Sejdiu
Höheres Armuts- und Gesundheitsrisiko in Südosteuropa durch Corona-Pandemie
Beengte Wohnverhältnisse, oft kein Zugang zu Wasser, Strom, Infrastruktur und damit schwierige hygienische Verhältnisse, sowie der alltägliche Rassismus der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Die Corona-Pandemie hat die Lage der Menschen weiter erschwert und das bestehende Armuts- und Gesundheitsrisiko der meisten Roma, Ashkali und Ägypter in Südosteuropa steigen lassen. So schlug der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma schon zu Beginn der Pandemie Alarm. Viele der Menschen seien bereits auf Sozialhilfe und Lebensmittelversorgung angewiesen gewesen oder hätten aufgrund fehlender Ausweispapiere keinen Zugang zur ohnehin zu niedrigen Sozialhilfe, hieß es in einer gemeinsamen Stellungnahme mit weiteren Organisationen. Behörden sollten Krisenpläne entwickeln und sich auch auf die Zeit nach der Pandemie einstellen, so die Erklärung. Die EU, sowie die Regierungen der betroffenen Länder müssten die Situation der Roma umgehend und nachhaltig verbessern.
Hohe Arbeitslosigkeit im Kosovo
Ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Im Kosovo liegt die Arbeitslosigkeit seit einiger Zeit bei 25-30 Prozent. Für 2021 liegen noch keine offiziellen Zahlen vor, doch zu Beginn der Pandemie wurden rund 60.000 Menschen arbeitslos. Mehr als die Hälfte kehrte aber nach der Lockerung von Corona-Maßnahmen wieder an den Arbeitsplatz zurück. Der Mindestlohn im Kosovo beträgt 150 Euro im Monat, doch es ist schwierig, einen ordentlichen Arbeitsplatz zu bekommen und viele junge Menschen verlassen das Land. Wie in allen Ländern des Westbalkans ist die massenhafte Abwanderung ein großes Problem.
Viele Kosten. Viele Schulden. Viel Druck.
Nexhmedin Sejdiu und seine Frau Valbone haben drei Söhne und vier Töchter zwischen 6 und 19 Jahren. Bis vor rund einem Jahr bekam die Familie rund 150 Euro staatliche Sozialhilfe. Diese wurde gestrichen, weil Sohn Rexhep kurze Zeit Arbeit hatte. Auf ARD-Anfrage teilte das zuständige Sozialamt in Podujevo mit, die Familie habe einen Monat lang ohne Berechtigung Sozialhilfe bezogen. Diese sei nicht zurückbezahlt worden. Wenn die Schulden beim Sozialamt beglichen würden, könne die Familie wieder Sozialhilfe beantragen. Jedem Erwachsenen stehen laut Sozialamt 60 Euro im Monat zu, jedem Kind beziehungsweise Jugendlichen unter 18 Jahren 5 Euro im Monat. Die Familie möchte die Schulden grundsätzlich begleichen.
Staatliche Hilfe reicht nicht aus
Auch mit staatlicher Unterstützung könnten die Sejdius keine großen Sprünge machen. Wer keine Einnahmen hat, aber viele Kosten, dem wachsen die Schulden schnell über den Kopf. Das belastet auch Nexhmedin Sejdius Ehefrau Valbone. Im Haus kocht sie mit zwei großen silbernen Kannen Tee. Doch oft reicht das Geld nicht für Lebensmittel, wie Milch, Brot, Butter, Nudeln, Reis, Gemüse, Obst oder Fleisch. Hinzu kommen 150 Euro monatlich für die Miete, dazu unvorhergesehene Ausgaben etwa für Ärzte. „Wir haben das Geld einfach nicht“, meint Valbona Sejdiu ernst.
"Wir leben nicht, wir überleben. Die Kinder arbeiten auf der Straße, sie sammeln Dinge, was immer sie finden können." Valbone Sejdiu, 42 Jahre
Auf dem Tisch im Wohnzimmer liegen die Dokumente der Familie, darunter gelbe deutsche Impfpässe. Vor rund 6 Jahren lebten alle Sejdius noch in Neustadt-Böbig in Rheinland-Pfalz und Vater Nexhmedin Sejdiu hatte eine Arbeit als Hausmeister. Doch – wie alle sechs Westbalkanländer – gilt der Kosovo als sogenanntes sicheres Herkunftsland. Der Asylantrag der Sejdius wurde in Deutschland abgelehnt und sie waren mehrfach aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Im Dezember 2015 reisten sie freiwillig aus Deutschland in den Kosovo aus und erhielten nach eigenen Angaben rund 3.500 Euro Rückkehrhilfe. Dieses Geld war wichtig, aber schnell aufgebraucht, erinnert sich der 43-jährige Nexhmedin Sejdiu. Bevor sie 2014 über Ungarn nach Deutschland gingen, fanden die Sejdius eine Granate in ihrem Garten, erzählt Nexhmedin Sejdiu. Die Situation habe sich aber inzwischen verbessert.
„Es gibt auch gute Leute, aber es gibt auch Leute, die hier vorbeilaufen und die so reagieren, als wären wir keine Menschen." Rexhep Sejdiu
Rexhep Sejdiu spricht noch immer gut Deutsch und würde gerne weiter lernen. Doch er verließ die Schule nach der 9. Klasse, um Arbeit zu finden. Bisher umsonst. An Demütigungen hingegen herrscht kein Mangel. Auch bei einem Job im Call Center machte er negative Erfahrungen. Nach einigen Tagen Probearbeit hieß es, seine Kleidung sei nicht gut genug. Die Probearbeit wurde ihm nicht bezahlt, sagt Rexhep Sejdiu. Laut kosovarischer Verfassung müssen 10 Prozent relevanter Posten mit Roma besetzt sein, doch das sei nicht der Fall, kritisiert Sejnur Veshall, Vizekulturminister der neuen Regierung von Ministerpräsident Albin Kurti. „Hier brauchen wir mehr Zustimmung und Koordinierung der Aktivitäten mit den Institutionen, um zumindest die Mitglieder der Roma-Gemeinschaft zu beschäftigen, die die Schule beendet haben“.
"Seit rund 500 Jahren leben Roma im Kosovo, doch in Schulbüchern wird das nicht erwähnt. Zumindest Geschichtsbücher sollten über das Zusammenleben schreiben, damit bei Kindern keine Vorurteile entstehen.“ Sejnur Veshall, kosovarischer Vizekulturminister
Sejnur Veshall ist 24 Jahre alt und selbst ein Rom. In europäischen Ländern mit besserem Lebensstandard lebe die Gemeinschaft der Roma besser und Diskriminierung würde von diesen weniger bemerkt. Im Kosovo sei die Armut größer und die Diskriminierung ausgeprägter. Ein doppeltes Problem, so der junge Vizeminister, da Roma auch als Arme wahrgenommen und diskriminiert würden.
Die Armut seiner Familie ist dem 16-jährigen Rexhep Sejdiu bewusst. Selbst kleinste Ausgaben sind ein Problem: Die Fahrt zu einem Vorstellungsgespräch. Die medizinische Untersuchung. All das schmälert die Bildungsperspektiven von ihm und seinen Geschwistern. Am liebsten würde er eine Ausbildung zum Automechaniker machen, aber auch eine andere Lehrstelle nähme er sofort.
„Was ich mir wünsche eine sichere Arbeit zu haben und damit kann ich etwas machen. Essen, Trinken, Strom bezahlen, Miete. Dann hat man nicht so viele Sorgen.“ Rexhep Sejdiu
Beratung für Rückkehrer und Einheimische
Im Kosovo gibt es offizielle Stellen, die sich um Rückkehrer kümmern. Zum Beispiel das „Deutsche Informationszentrum für Migration, Ausbildung und Karriere“ der GIZ, das mit den kosovarischen Behörden zusammenarbeitet und in Prishtina und Prizren aktiv ist. Zu Coronazeiten wurde viel Nothilfe geleistet, denn Menschen hätten oft nicht einmal Lebensmittel gehabt, sagt Martina Sommer am Telefon. Sie leitet den Geschäftsbereich Migration und Integration bei der Arbeiterwohlfahrt in Nürnberg. Diese unterstützt Rückkehrer in den Kosovo und kooperiert vor Ort unter anderem mit der GIZ. Nach wie vor gäbe es Rückkehrer aus Deutschland, wenn auch weniger.
Unterdessen versucht Rexhep dem zermürbenden Kreislauf der Armut zu entkommen. Auf Staat, Politik oder eine der zahlreichen NGOS im Kosovo möchte er sich dabei nicht verlassen. Über Facebook hat er tatsächlich eine Ausbildung im Hotelbereich ergattert. Wieder muss er Geld auftreiben für einen Deutschkurs oder Fahrten mit dem Bus. Ob alles klappt ist noch nicht sicher, doch der 16-Jährige ist überzeugt. Auf seinen Staat zählen, das kann er nicht.
Hintergrund
Laut der letzten Volkszählung 2011 leben im Kosovo 28.000 – 30.000 Roma, Ashkali und Balkan-Ägypter. Sie machen damit rund 2 Prozent der Bevölkerung aus. Im kosovarischen Parlament haben sie Anspruch auf vier Abgeordnetenmandate. Die Schwierigkeiten der Menschen liegen vor allem in den Bereichen Bildung, Wohnen, Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen und Infrastruktur, zu denen sie keinen stetigen Zugang haben. Soziale und kulturelle Teilhabe bleibt im Kosovo vielen ebenso verwehrt. Wie in allen Ländern Südosteuropas halten sich auch im Kosovo hartnäckig Vorurteile und Rassismus, aufgrund dessen die Menschen oft ausgegrenzt bleiben. Nach dem NATO-geführten Kosovokrieg 1999 gegen Serbien versuchten viele Roma, Ashkali und Balkan-Ägypter den Kosovo dauerhaft zu verlassen. Die Situation hatte sich unter anderem verschlechtert, weil Roma, Ashkali und Balkan-Ägyptern von der Mehrheitsgesellschaft im Kosovo unterstellt wurde, mit der serbischen Regierung und dem nationalistischen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic kollaboriert zu haben. 2015 erklärte Deutschland auch den Kosovo zu einem „sicheren Herkunftsland“. Das beinhaltet unter anderem: Es gibt dort keine Verfolgung, keine Folter, keinen bewaffneten Konflikt und keine Androhung von Gewalt und keine erniedrigende Behandlung. Eine Datengrundlage fehlt, doch die kosovarische Nichtregierungsorganisation „Advanced Together“ stellte fest, dass allein 2014/2015 rund 5.000 Roma, Ashkali und Balkan-Ägypter nach Westeuropa gingen, überwiegend nach Deutschland. Viele gaben dafür ihre Lebensgrundlage auf, was sie bei einer „freiwilligen Rückkehr“ oder Abschiebung zu spüren bekamen. Auch gab es oft Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Schulzeugnissen. Diese waren nicht immer vorhanden, da „freiwillige Ausreisen“ oder Abschiebungen auch mitten im Schuljahr stattfanden.