Die 14-jährige Linda macht Bahnradfahren als Leistungssport. Sie musste vergangenes Jahr vier Mal an den Knien operiert werden. Die Operationen verliefen gut, erzählt sie im Interview mit Kontrovers, aber das Essen im Krankenhaus war ein ernstes Problem: "Wenn du es schon siehst, dann hast du schon keinen Hunger, da vergeht dir der Appetit."
Ihre Mutter musste ihr gesundes und nahrhaftes Essen ans Krankenbett bringen: "Frisches Obst, Salat oder ordentliches Gemüse ist in der Klinik alles eigentlich Fehlanzeige gewesen." Die Schülerin aus Nürnberg kam am Ende mit deutlich weniger Gewicht und Muskelmasse heim als normalerweise bei einem Krankenhausaufenthalt erwartbar gewesen wäre.
Mehr als 35 Prozent der Patienten mangelernährt
Solche Erfahrungen machen immer mehr Kassenpatienten. Laut einer Auswertung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung auf Basis von 48 deutschen Krankenhausstationen waren mehr als 35 Prozent der Patienten mangelernährt, das bedeutet, sie bekamen zu wenig oder die falsche Nahrung im Krankenhaus. Zu den Folgen einer Mangelernährung durch Krankenhausessen zählen z.B. erhöhte Infektanfälligkeit, gestörte Wundheilung, längere Genesungsprozesse und sogar in Extremfällen eine erhöhte Sterblichkeit.
Prof. Hans Hauner ist Ernährungsmediziner an der Technischen Universität München. Er untersucht in seinem Kochlabor auch Patientenessen und beobachtet aufgrund des aktuellen Kostendrucks in den Kliniken massive Einsparungen: "Pro Patient werden für das Essen am Tag 4 bis 5 Euro ausgegeben und das kann sich dann ja jeder selbst ausrechnen, das ist eben dann das unterster Qualitätsniveau." Vier bis 5 Euro Wareneinsatz für Frühstück, Mittag- und Abendessen – wie soll da jemand schnell wieder zu Kräften kommen und gesund werden?
Krankenhauskost schneidet in Studie schlecht ab
Besonders deutliche Belege für das Problem fand eine Schweizer Langzeitstudie mit rund 2.000 Patienten, die Kontrovers vorliegt. Die eine Hälfte der Erkrankten erhielt die übliche Krankenhauskost. Bei der anderen Hälfte stimmten Diätassistenzen die Verpflegung gezielt auf die individuellen Bedürfnisse ab, insbesondere bei der Kalorienmenge, dem Eiweißanteil und Nährstoffgehalt.
Das zeigte Wirkung: In der Gruppe mit Ernährungstherapie hatten die Patienten nach 30 Tagen ein um 21 Prozent niedrigeres Risiko für schwerwiegende Komplikationen oder eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes als jene Patienten, die die übliche Krankenhauskost erhielten. In der Schweizer Studie waren zudem nach 30 Tagen zehn Prozent der Menschen verstorben, die mit üblicher Krankenhauskost versorgt worden waren. 'In der Interventionsgruppe traf dies "nur" auf sieben Prozent zu. Im Einzelfall könnte eine konsequente Ernährungstherapie bei der Krankenhauskost also über Leben oder Tod entscheiden.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sieht darin kein Problem. Die meisten Patienten blieben nur fünf bis sechs Tage, nicht lange genug, um durch das Essen Schaden zu nehmen, erklärt Dr. Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft gegenüber Kontrovers: "Die Krankenhäuser stehen seit Jahren unter einem enormen finanziellen Druck, das wirkt sich in allen Bereichen aus, leider auch bei den Sachkosten, zu denen auch das Essen gehört. Krankenhäuser müssen auch hier sehr genau schauen, was kann an Geld ausgegeben werden."
Krebspatienten besonders betroffen
Besonders gravierend ist das zum Beispiel bei Krebspatienten. Sie bleiben oft über Monate im Krankenhaus. Laut einer Studie von 2021 war bei bis zu 20 Prozent der verstorbenen Krebspatienten nicht ihre Erkrankung, sondern Mangelernährung die Todesursache, so eine Studie der Klinik für Tumorbiologie der Universität Freiburg.
Isst ein Krebspatient wenig Nahrhaftes, wird sein Körper durch die Chemotherapie ausgezehrt und stellt seine Funktion ein. Gesunde Nahrung dagegen kann die Heilung begünstigen. Neben Tumorerkrankten sind besonders Menschen mit Magen-Darm-Operationen und ältere Patienten von Mangelernährung betroffen.
Positives Beispiel in Ebersberg
Kontrovers besucht die Patientenküche der Kreisklinik Ebersberg. Eines der wenigen Krankenhäuser in Bayern, das uns zum Thema überhaupt filmen lässt. Die Kreisklinik gilt als vorbildlich, was Essen im Krankenhaus anbelangt – auch für Kassenpatienten. Küchenchef Ludwig Grill erklärt seine Philosophie, die mit viel Arbeit verbunden ist: "Der Patient ist nicht dumm, der kriegt mit, was frisch, was selbergemacht ist. Wir produzieren die Semmelknödel selber, wir machen die Spätzle selber."
Selbstgekocht ist bei guter Organisation und dem richtigen Personal mit nur wenig mehr finanziellem Aufwand möglich. In Ebersberg sieht man das Essen nicht als Kostenfaktor, sondern ist stolz auf die Qualität. Ludwig Grill hat freie Hand, was das Budget und die Einteilung seines Küchen-Teams anbelangt. Mit Rückendeckung des Trägers werden die Prioritäten anders gesetzt - gegen industriell vorgekochtes Essen.
Politik und Krankenkassen sind gefordert
Doch gerade Politik und Krankenkassen verweigern sich solchen Ideen seit Jahren. Das kritisiert auch Ernährungsmediziner Professor Hans Hauner von der Technischen Universität München: "Da fehlt wirklich der Wille der Verantwortlichen, denn das wäre am Ende für das ganze System gut." Die Position des Bundesgesundheitsministeriums ist seit langem die gleiche, auf Anfrage von Kontrovers heißt es: "Für die Verpflegung im Krankenhaus sind die Kliniken im Rahmen ihrer Organisationshoheit selbst verantwortlich."
Diese Haltung hat nun renommierte Ärzte und Wissenschaftler auf den Plan gerufen. In einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Lauterbach (SPD) und den Bundesminister für Ernährung Özdemir (B‘90/Grüne) fordern sie eine bessere Finanzierung der Krankenhausverpflegung und verpflichtende Standards für die Ernährung in Kliniken.
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