Yuval Bitton hält das Plakat seines lächelnden Neffen Tamir Adar in der Hand. Darauf steht: "Bringt ihn jetzt nach Hause." Bitton aber weiß, dass Tamir nicht mehr lebt. "Seine Tochter ist drei, sein Sohn sieben. Er war Bauer, liebte das Land." Am 7. Oktober habe der 38-jährige Tamir seine Familie im Bunker zurückgelassen, um sein Kibbuz zu schützen, das von hunderten Terroristen überrannt wurde. Zweieinhalb Stunden lang habe sein Neffe im Sicherheitsteam des Kibbuz Nir Oz gekämpft, in dem auch die Bibas-Familie entführt wurde. Die Familien waren befreundet. Doch eine Handvoll Männer gegen hunderte Terroristen? "Sie hatten keine Chance", fügt Bitton hinzu. Auf dem Handy sucht er ein Bild heraus von der Stelle im Kibbuz, von der Tamir verschleppt wurde. Am Boden neben einer Hauswand sind getrocknete Blutspuren zu sehen. Der zweifache Familienvater sei von der Hamas verletzt nach Gaza verschleppt worden. Dort gestorben.
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Er rettete Sinwar das Leben, die Hamas ließ seinen Neffen sterben
Yuval Bitton hält inne, erinnert sich an seine Zeit als Gefängniszahnarzt in den 90er und 2000er Jahren. Damals behandelte Bitton ausgerechnet den Mann, der als Drahtzieher des 7. Oktober gilt. Der heutige Anführer der Hamas in Gaza - Jahia Sinwar. "Ich habe Sinwars Leben gerettet. Er hatte ein Abszess im Gehirn. Ich war der Arzt, der es diagnostizierte", gibt Bitton zu. "Er sagte mir, ich schulde Dir mein Leben." Sinwar habe Bitton sogar um seine Telefonnummer gebeten, als er freigelassen wurde. "Nun Sie haben ja gesehen, was er am 7. Oktober gemacht hat. Er ließ meinen Neffen sterben." Bitton ist sich einhundertprozentig sicher: Der Hamas-Chef in Gaza weiß, dass der entführte Tamir Adar Bittons Neffe ist. Auch Tamirs Großmutter Yaffa Adar, 86 Jahre alt, wurde entführt. Ihr Bild ging um die Welt. Yaffa Adar kam frei. Tamir Adars Leiche ist noch in Gaza.
Beim Zahnarzt hat sich der Terrorchef sicher gefühlt
Plötzlich fällt es Bitton schwer, zu reden. Dabei hält der ehemalige Arzt und Geheimdienstler seit seiner Pensionierung Vorträge über die Hamas und Sinwar. Auf seinem Handy sucht er noch ein Bild heraus. Es stammt aus dem Jahr 2010. Es zeigt die beiden Männer, Bitton in Gefängnisuniform, den Zeigefinger erhoben. Sinwar trägt einen schwarzen Gefangenenanzug. Sie hätten damals über den Austausch des israelischen Soldaten Gilad Shalit gegen palästinensische Hochsicherheitsgefangene gesprochen.
Bitton, der da schon für den israelischen Geheimdienst arbeitete, um Sinwar Informationen zu entlocken, gehörte zum Verhandlungsteam. Er habe viel mit dem Terrorchef diskutiert, sein Verhalten und das der anderen Hamas-Gefangenen beobachtet. Wie in einem Mikrokosmos habe die Hamas im Gefängnis die Strukturen von draußen kopiert. "Copy, Paste", nennt es Bitton. Auch einen Emir, einen Hamasprinzen, der gewählt wird und ein Politbüro der Hamas im Gefängnis habe es gegeben. Sinwar sei zweimal Emir im Gefängnis gewesen. Schon damals habe er aus der Zelle heraus die Strippen gezogen. Vermeintliche Verräter ließ er brutal ermorden, ihnen die Köpfe abschlagen, so Bitton. Beim Zahnarzt aber habe sich Sinwar sicher gefühlt.
Sinwar ist bereit, auch 100.000 Palästinenser zu opfern
Ob es nicht schwer war, das Vertrauen eines gefährlichen Terroristen zu gewinnen? "Die Gefangenen vertrauen den Ärzten. Alles, was sie sagen, ist akzeptabel", sagt Bitton und lächelt. Es sei ihm nicht schwergefallen, tiefe Einblicke in die Welt der Hamas im Gefängnis zu bekommen. Die meisten heutigen Anführer der Terrororganisation saßen mehr als 20 Jahre im israelischen Gefängnis. Über die Zeit haben sich Bitton und Sinwar kennengelernt. Einmal bei den Verhandlungen zur Freilassung von Gilad Shalit habe er Sinwar gefragt, ob es das wert sei, einen israelischen Soldaten zu entführen. Denn dadurch seien schon damals Tausende in Gaza - Terroristen und Unschuldige - getötet worden. "Wissen Sie, was Sinwar mir geantwortet hat? Er ist bereit, auch 100.000 Palästinenser zu opfern, nur um 200 Gefangene freizubekommen. Für Sinwar spielt das Leben der Bevölkerung in Gaza keine Rolle. Die denken nicht wie wir. Die Hamas betet den Tod an, wir das Leben", sagt Yuval Bitton.
"Sinwar weiß genau, was er tut"
Wer bei der Hamas als Kollaborateur galt, bezahlte das mit dem Tod. Genau das war Sinwars Job bei der Hamas, bevor er zum wichtigsten Anführer in Gaza aufstieg, erzählt Bitton. Von damals stammt auch sein anderer Name: "Abu Ibrahim. Der Schlächter von Khan Younis." Einen mutmaßlichen Verräter soll Sinwar gehängt haben, dabei musste der Sohn zusehen. Ein anderer soll lebendig begraben worden sein. Ist Hamas-Terrorist Sinwar ein kaltblütiger Psychopath? "Nein überhaupt nicht. Ich mag diese Diagnose nicht. Wenn er ein Verrückter ist, erwarten sie nichts. Aber Sinwar weiß genau, was er tut", antwortet Bitton. "Nicht nur Sinwar. Alle Hamasanführer denken gleich."
Bitton warnte den Geheimdienst, Sinwar nicht freizulassen
Er habe damals viele führende Hamas, aber auch Fatah-Mitglieder im Gefängnis behandelt. Auch Rouhi Mushtaha gehörte zu Bittons Patienten. Mushtaha ist ebenfalls Führungsmitglied der Hamas, ähnlich wie Hamaschef Ismail Haniyya und Jahia Sinwar. Mushtaha ist heute Teil des Politbüros der Hamas. In die Pläne für den 7. Oktober könnte er eingeweiht gewesen sein. Im April vergangenen Jahres besuchte Mushtaha eine Ausstellung in Gaza, die Bilder von Gefangenen in Israel zeigten. Arabische Medien zitieren Mushtaha so: "Die Gefangenen werden überrascht sein von der Methode, mit der sie freikommen werden. Diese wundervolle Methode werden wir anwenden, falls die Gefangenen nicht durch die bekannten Methoden freikommen."
War das ein Wink mit dem Zaunpfahl, den keiner richtig deutete? Fakt sei, sagt der ehemalige Arzt und Geheimdienstler Bitton, beide – Sinwar und Mushtaha – würden Entscheidungen gemeinsam treffen. "Aber Mushtaha ist schlimmer. Wenn wir Sinwar beseitigen, ist der Nächste noch schlimmer. Die denken alle gleich." Weil er ihr Gefahrenpotential erkannte, habe er den Geheimdienst damals vor allem vor der Freilassung von Sinwar im Austausch gegen Gilad Shalit gewarnt, sagt Bitton. Genützt hat es nichts.
Sinwar fürchte sich vor Machtverlust
Wieder holt Bitton sein Handy hervor. Diesmal spielt er Videos ab. Unter anderem zu sehen ist Bittons zweiter Neffe Nir, Tamirs Bruder, der auch in Nir Oz lebte. Er hat das Massaker überlebt. Direkt im Haus neben der Familie Bibas. Er hörte mit an, als Shiri Bibas mit ihren zwei kleinen Kindern Ariel und Kfir entführt wurde. Mit dem Finger deutet Bitton auf das Display: "Das ist das Haus der Bibas. Hier daneben das ist Nirs Haus. Nir hat alles gehört. Schauen Sie. Es sind hunderte Terroristen. Keine Armee."
Mitschuld am 7. Oktober trage Bitton zufolge die israelische Regierung, weil sie die Hamas unterschätzt hat. Und weil sie im Krieg keinen Plan hat, wer die Kontrolle im Gazastreifen übernehmen soll, einen Plan für den Tag danach, kritisiert Bitton. Ihm zufolge gibt es nur eine Sache, vor der sich Jahia Sinwar wirklich fürchtet: "Seine Macht an die [konkurrierende, Anm. d. Red.] Fatah zu verlieren. Nicht an Israel. Sinwar weiß, wie er Israel bekämpfen kann. Aber wenn er die Kontrolle an seine eigenen Leute, an Palästinenser in der Fatah verliert, ist das etwas anderes." Eine Kontrolle des Küstenstreifens mithilfe von Palästinensern, die nicht die Hamas unterstützen, in Zusammenarbeit mit arabischen Staaten wie Ägypten oder Saudi-Arabien und den USA. Dies hätte den Druck erzeugen können, die noch lebenden Geiseln zu befreien. Nun sei es Bitton zufolge für die meisten zu spät.
Sinwar ist bereit, zu sterben
Erwarten könne man von Sinwar nichts, nur, dass der bereit sei zu sterben: "Er wird nicht aus Gaza flüchten. Wenn jemand sagt, Sinwar wird versuchen nach Ägypten zu fliehen, dann verstehen Sie nichts über die Hamas. Er wird in seinem Land bleiben. Auch wenn er von Israel getötet wird." Sinwar sei bereits in die Geschichte eingegangen für das, was er Israel angetan hat und seiner Familie, so Bitton.
Bittons Familie kämpft jetzt dafür, dass die noch lebenden Geiseln freikommen und die Toten begraben werden können. Auch Tamir, sagt Bitton zum Schluss. Ob er sich wünsche, dass er Sinwar damals nicht im Gefängnis das Leben gerettet hätte? Als Arzt habe er geschworen, Leben zu retten. Deshalb würde er sich immer wieder so entscheiden, antwortet Bitton. Auch wenn die Verkettung der Ereignisse seinem Neffen am 7. Oktober das Leben gekostet hat.
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