"Von Brüssel mit Bürokratie zugeschüttet", so fühlt sich ein Metzgermeister, der sich in der BR Wahlarena vom Mittwoch äußerte. Sein Betrieb müsse mehrmals am Tag die Kühlraumtemperaturen dokumentieren oder Reinigungsprotokolle führen - ein für ihn unnötiger Mehraufwand, der auch einen Wettbewerbsnachteil bedeute.
Die Europa-Spitzenkandidatin der Freien Wähler, Ulrike Müller, betonte daraufhin, ihrer Partei gehe es insbesondere darum, eben jene kleinen und mittelständischen Unternehmen zu stärken. Neue EU-Vorgaben würden dahingehend geprüft, ob sie die Betriebe belasteten.
In Bezug auf bürokratische Auflagen aus der Europäischen Union sagte sie:
"Seitdem ich Landwirtin bin, redet man von Bürokratie-Abbau und ich weiß von keinem Mal, dass irgendwo etwas weniger geworden wäre. Es wird immer mehr." Ulrike Müller, FW-Kandidatin zur Europawahl, in der BR Wahlarena
Müller fügte aber auch an, dass die unterschiedlichen Richtlinien in den Mitgliedsstaaten häufig unterschiedlich ausgelegt würden. Das geht deshalb, weil die Länder EU-Richtlinien erst in nationales Recht umwandeln müssen. EU-Verordnungen gelten hingegen unmittelbar auf nationaler Ebene.
Der #Faktenfuchs geht dem ersten Teil von Müllers Aussage nach: Wie viel reguliert die EU und werden die Vorgaben immer mehr?
Wiederkehrende Mythen zur EU-Regulierung
Mit ihrer Haltung steht die Politikerin der Freien Wähler nicht allein da. Immer wieder beschweren sich Kritiker, "die EU" mache zu viele und kleinteilige Vorgaben und mische sich zu stark in den Alltag der Menschen ein. Etwa wenn sie angeblich gehäkelte Topflappen und Pommes verbieten oder die Größe von Duschköpfen oder das Rezept von Pizzen vorgeben will. Solche Mythen lassen sich schnell auflösen, die EU-Kommission hat viele davon auf ihrer Website gesammelt.
Den Vorwurf einer vermeintlichen "Regulierungswut" bekommt besonders häufig die Kommission zu hören, weil sie Gesetzesvorschläge in der Regel einbringt und dem Rat und Parlament vorlegt. Wichtig ist dabei aber auch, dass sie häufig auf Initiative der Mitgliedsstaaten zurückzuführen sind, von Lobbyverbänden oder auch anderen EU-Organen wie dem Parlament.
Für welche Bereiche ist die EU zuständig?
In der EU gilt das Prinzip der Subsidiarität. Kurz umschrieben, bedeutet das: Die EU soll sich nur um die Dinge kümmern, die sie besser regeln kann als ihre Mitgliedsstaaten auf nationaler oder regionaler Ebene. Da der EU-Raum ein einheitlicher Binnenmarkt ist, sind das der Außenhandel, die Sicherung des Wettbewerbs oder die Währungspolitik. Kompetenzen, die überwiegend bei den Mitgliedsländern liegen, sind etwa die Sozialpolitik, der Arbeitsmarkt, Rente und Gesundheit.
Die Agrarpolitik ist innerhalb der EU das am stärksten regulierte Politikfeld. Ihre Zuständigkeit teilt sich die EU hier mit den Mitgliedsländern.
Neue Politikfelder und tiefgreifendere Regelungen
Der Politikwissenschaftler Rainer Eising von der Ruhr-Universität Bochum hatte gegenüber der Bundeszentrale für politische Bildung bereits zur vorherigen Europawahl 2014 gesagt: "Es ist richtig, dass die EU immer mehr regelt, wenn man das über den Zeitraum von 60 Jahren betrachtet."
Das liege zum einen daran, dass neue Politikbereiche hinzugekommen sind, etwa bei der Umweltpolitik. Zum anderen gebe es bei den Feldern, für die die EU schon lange zuständig sei, einen Zuwachs an Regelungen. "Ein Beispiel dafür ist die Agrarpolitik: Die EU hat ausgeprägte Kompetenzen im Bereich des Agrarmarktes, sie regelt dort auch Einzelheiten", so Eising.
"Groß in großen Dingen und klein im Kleinen"
Die Klage, dass gerade die EU-Kommission den Alltag der Menschen zu sehr bestimme, mag der jetzige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nicht verstehen. Im Interview mit der österreichischen Tageszeitung "Der Standard" sagte er vergangene Woche:
"Diese Vorwürfe, dass das gemeinsame Europa überbürokratisiert sei. Das mag vielleicht zum Teil stimmen. Aber dass wir uns als Kommission in das tägliche Leben der Menschen zu sehr einmischen, das ist ein Vorwurf, den ich nicht nachvollziehen kann."
Juncker trat seine Amtszeit mit dem Versprechen an, weniger, dafür aber bessere Gesetze zu schaffen - gemäß seinem Motto "Groß in großen Dingen und klein im Kleinen." Um Bürokratie abzubauen, setzte er eine eigene Task Force ein, die regelmäßig bestehendes EU-Recht durchforsten und komplizierte Vorgaben vereinfachen oder streichen soll.
75 Prozent weniger Gesetzesinitiativen als Vorgänger
Im Bereich der europäischen Agrarpolitik seien 2017 in einer öffentlichen Konsultation zum Beispiel 322.000 Verbesserungsvorschläge eingereicht worden, berichtet Politikwissenschaftler Oliver Schwarz von der Universität Duisburg-Essen. Aktuell werde über eine grundsätzliche Reform der EU-Agrarpolitik für die Zeit nach 2020 verhandelt.
Seit 2014 hat die Kommission einem Sprecher zufolge mehr als 100 Gesetzesvorschläge zurückgezogen und 75 Prozent weniger Initiativen abgegeben als in der Legislaturperiode davor. Insgesamt habe die Kommission unter Juncker 471 Gesetzesinitiativen eingebracht, zusätzliche 55 Initiativen stammen noch von der alten Kommission unter José Manuel Barroso. Die wichtigsten waren das Ende von Roaming und Geoblocking, das Verbot von Einwegplastik, die neue Datenschutzgrundverordnung und die Reform des Urheberrechts.
Reguliert die EU immer mehr?
Dass die Gesetzesinitiativen der Kommission weniger geworden sind, bestätigt auf BR24-Anfrage auch die Politikwissenschaftlerin Ariadna Ripoll Servent von der Universität Bamberg. Sie und Politikwissenschaftler Schwarz verneinen die Frage, ob die EU immer mehr regele. Ripoll Servent: "Nein, das stimmt nicht unbedingt. Die Juncker-Kommission hat weniger Gesetzgebungsvorschläge als die Barroso II Kommission eingebracht. Meistens sind die Vorschläge eine Überarbeitung bereits existierender Gesetze."
Die Zahl der Vorschläge einzudämmen sei der Kommission aber nicht immer gelungen, schreibt Ripoll Servent weiter. Vor allem dann nicht, wenn der Europäische Rat - also die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten - Druck ausgeübt habe. "Deswegen haben wir mehr Regulierung in der Wirtschaftspolitik nach der Eurokrise und in der Asyl- und Grenzpolitik nach der Schengenkrise."
"Unter Juncker hat Regulierungsintensität der EU deutlich abgenommen"
Ein Rückgang ist ebenso bei den erlassenen EU-Verordnungen und Richtlinien zu beobachten. In einer Studie des Centrums für Europäische Politik (CEP), einer wirtschaftsliberalen Denkfabrik in Freiburg, versuchten die Autoren, das Ausmaß der EU-Regulierung zu erfassen.
Dabei verglichen sie - neben weiteren Parametern - alle europäischen Richtlinien und Verordnungen, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vom Europäischen Parlament und vom Rat zwischen den Jahren 2000 und 2017 verabschiedet worden waren. Sie stellten fest: "Unter Kommissionspräsident Juncker hat die Regulierungsintensität der EU deutlich abgenommen."
Betrachtet man die Zahlen von 2000 bis 2014, verabschiedete die EU im Durchschnitt 76 Richtlinien und Verordnungen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren im Jahr. Werden die Amtsjahre von Kommissionspräsident Juncker hinzugenommen, sinkt der Wert auf durchschnittlich 74.
Fazit
Ob die Europäische Union "zu viel" reguliert, ist eine Frage der politischen Perspektive. Seit Bestehen der EU und ihrer Vorgänger ist die Bürokratie mit Sicherheit gewachsen. Das liegt insbesondere daran, dass die Mitgliedsländer der EU in vielen Bereichen Kompetenzen übertragen haben. So auch im Bereich der Landwirtschaft, den die FW-Kandidatin Müller in der BR Wahlarena nennt. Zugleich bemüht sich die EU besonders seit 2000, bürokratische Hürden abzubauen. Die Gesetzesvorschläge aus der Kommission und erlassene EU-Richtlinien und Verordnungen sind unter dem aktuellen Präsidenten Juncker deutlich zurückgegangen.