"Du bist kein Pferd. Du bist keine Kuh. Ernsthaft, ihr alle. Hört auf damit." Die Ansprache klingt erst einmal witzig, doch die amerikanische Lebens- und Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) wusste sich nicht anders zu helfen. Diesen Appell bezüglich Ivermectin-Einnahme richtete sie in einem Tweet im August an die Öffentlichkeit.
Der Hintergrund: Mehrere Menschen in den USA hatten das Medikament Ivermectin eingenommen und sich damit vergiftet. Am selben Tag hatte die Gesundheitsbehörde des US-Bundesstaates Mississippi gemeldet: Mindestens 70 Prozent der zuvor eingegangenen Notrufe aufgrund einer Vergiftung lag eine Ivermectin-Einnahme zugrunde.
Ivermectin ist der Wirkstoff in bereits zugelassenen Medikamenten für Menschen und Tiere, die gegen Parasitenbefall eingesetzt werden. Die entsprechenden Medikamente werden zum Beispiel eingenommen, um Fadenwürmer im Körper zu bekämpfen. Auf die Haut werden sie aufgetragen, um Krankheiten wie Krätze und Rosazea, eine Hautentzündung im Gesicht, zu heilen.
FPÖ verbreitet fragwürdige Informationen über Ivermectin
Der rapide Anstieg der Ivermectin-Vergiftungen hat seine Ursache in der Angst vor einer Covid-19-Erkrankung. Denn überall auf der Welt, nicht nur in den USA, kursiert die fragwürdige Information: Ivermectin könne vor einer Erkrankung schützen und die Heilungschancen steigern.
Auch in Europa, zum Beispiel in Österreich, vergifteten sich Menschen mit Ivermectin. In der Steiermark kam eine Frau aufgrund einer hohen Dosis auf die Intensivstation, berichtete der ORF. In Oberösterreich wurden Ivermectin-Medikamente in so hohen Mengen eingekauft, dass der Vorrat knapp wurde, berichteten die "Oberösterreichischen Nachrichten".
Dass sich in Österreich viele Menschen für Ivermectin interessieren, könnte mit dem FPÖ-Parteivorsitzenden Herbert Kickl zusammenhängen. Kickl empfahl Anfang November Ivermectin zur Covid-19-Behandlung, obwohl dieser Behauptung zu diesem Zeitpunkt schon von Fachbehörden widersprochen worden war. Außerdem verbreitete die FPÖ im November über ihren Youtube-Kanal einen Beitrag des Bayerischen Rundfunks vom April dieses Jahres; inzwischen wurde das Video wieder gelöscht.
Ivermectin wurde versuchsweise eingesetzt, jetzt nicht mehr
Die "Abendschau" hatte im Frühjahr über die damals noch vielversprechende, versuchsweise Anwendung von Ivermectin in der Münchner Klinik "Barmherzige Brüder" in München berichtet. "Eine namhafte Klinik, optimistische Ärzte und ein Hoffnungsschimmer am Horizont - das war uns von der Abendschau einen Beitrag wert", teilt die Redaktion auf Anfrage mit.
Und sie stellt klar: "Ein Bericht über Heilversuche an einer Klinik kann und soll keine Empfehlung oder gar Aufforderung dafür sein, solche Therapieansätze oder Medikamente an sich selbst auszuprobieren – unabhängig davon, wie hoffnungsvoll die Medizinerteams zu dem Zeitpunkt sind oder waren."
Ivermectin wurde im Krankenhaus Barmherzige Brüder versuchsweise bei Covid-19 erkrankten Patienten eingesetzt. Im Frühjahr sagte ein Klinikvertreter dem BR: Der Trend in wissenschaftlichen Studien deute (zu diesem Zeitpunkt) darauf hin, dass sich mit der Gabe von Ivermectin die Chancen für die Patienten verbessere.
Franz Brettner, Chefarzt der Anästhesiologie der Intensivmedizin der Klinik, sagte nun dem BR, Ivermectin sei zwischen Januar und Oktober 2021 einer "mittleren zweistelligen Zahl" an Patienten verabreicht worden für je maximal fünf Tage, entsprechend eines empfohlenen Behandlungsprotokolls einer amerikanischen intensivmedizinischen Expertengruppe.
Seit Oktober wird in der Münchner Klinik kein Ivermectin mehr zur Behandlung eingesetzt. Die Entscheidung fiel laut Brettner, nachdem die entsprechenden Leitlinien für die Behandlung mit Ivermectin geändert wurden. Eine Kommission habe die vorliegenden Erkenntnisse zu Ivermectin bewertet und sei auf der Grundlage wissenschaftlicher Evidenz zu dem Schluss gekommen, das Medikament nicht für die Behandlung von Covid-19-Erkrankten zu empfehlen.
Es gab Hinweise auf die Wirksamkeit von Ivermectin
Ivermectin wurde nicht nur in dieser einen Münchner Klinik eingesetzt. Seit Beginn der Corona-Pandemie werden ständig bereits zugelassene Medikamente daraufhin überprüft, ob sie auch gegen Covid-19 wirksam sein könnten. Man spricht dann von einem "off-label-use", also ein Einsatz abseits des eigentlichen Zwecks. Einen solchen können Ärztinnen und Ärzte im Rahmen ihrer Therapiefreiheit im Einzelfall anwenden.
Bekannt ist etwa das Medikament Remdesivir, ursprünglich als Mittel gegen Ebola entwickelt. Die Europäische Arzneimittelagentur hat Remdesivir mittlerweile auch für bestimmte Behandlungsformen als Medikament gegen Covid-19 zugelassen, da es einen anscheinend zur Genesung der Patienten beiträgt und diese eine kürzere Zeit im Krankenhaus bleiben müssen.
- Hier lesen Sie, welche Medikamente gegen Covid-19 getestet werden und wie diese wirken
Zum Einsatz von Ivermectin gab es bereits viele Studien, eine mögliche Wirkung gegen Covid-19 wird fortlaufend erforscht. Dass Ivermectin überhaupt in Betracht gezogen wurde, hat damit zu tun, dass schon vorher bekannt war, dass der Wirkstoff Viren hemmen kann. Im Juni 2020 wurde eine vielversprechende Laborstudie publiziert. Dort wurden die Versuche aber "in vitro" durchgeführt. Das bedeutet, Ivermectin wurde in der Studie nicht an Patienten getestet, sondern an Zellkulturen im Labor. Der Wirkstoff wurde in Corona-infizierte Versuchszellen eingebracht und konnte die Menge an viraler RNA sehr deutlich senken.
"Es ist deswegen gerechtfertigt, Ivermectin auf den möglichen Nutzen bei Menschen weiterhin zu untersuchen", schrieb das Autoren-Team damals. Aus dieser Laborstudie allein sollte man jedoch keine zu weitreichenden Schlussfolgerungen ziehen, schrieb etwa die Fachzeitschrift Pharmazeutische Zeitung: Denn die eingesetzte Dosis lag "weit über jener, die für Menschen zugelassen ist".
Zu Ivermectin gibt es bereits viele Studien
Also liefen Studien mit Covid-19-Patienten an. Diese wurden mit Ivermectin behandelt und mit anderen Patientengruppen zur Kontrolle verglichen, die Placebos oder andere Medikamente erhielten. In einer Studie aus Kolumbien mit knapp 500 Patienten mit milden Covid-Symptomen erhielt eine Gruppe zum Beispiel über fünf Tage hinweg Ivermectin, die andere Gruppe ein Placebo. Es wurde aber kein signifikanter Effekt des Medikaments festgestellt.
Andere Ergebnisse erzielte eine viel beachtete Studie aus Ägypten mit 400 symptomatischen Covid-Patienten und 200 Kontaktpersonen, die im Sommer des Jahres 2020 durchgeführt wurde. Darin behauptet das Autoren-Team, dass Ivermectin sowohl die Sterblichkeitsrate bei den Patienten als auch die Gefahr einer Ansteckung der Kontaktpersonen deutlich senke.
Eine viel beachtete Ivermectin-Studie hat schwere Fehler
Diese viel beachtete Studie aus Ägypten, online veröffentlicht als Preprint auf der Plattform "Research Square", wurde aber im Juli 2021 zurückgezogen. Aus "ethischen Sorgen", wie die Plattform mitteilte. Einem Medizin-Studenten aus London waren Ungereimtheiten aufgefallen, zum Beispiel sei der Text der Studie teilweise schlicht abgeschrieben worden aus anderen Studien. Zusammen mit einem internationalen Team aus Fachwissenschaftlern begutachtete Jack Lawrence dann die Datensätze, die der Studie zugrunde lagen.
- Zum Artikel "#Faktenfuchs: Wann ist eine Studie aussagekräftig? "
Dabei fanden sie schwerwiegende Fehler, die auf Manipulation hindeuteten. Der wichtigste Punkt: 79 Patientendaten seien offensichtliche Kopien von anderen Daten, sagte das Team der britischen Zeitung The Guardian. Sie unterstellen zudem Vorsatz, denn die Datensätze der Patienten seien nur an ein oder zwei Stellen verändert worden, um sie "natürlicher" wirken zu lassen. Die ägyptischen Studienautoren äußerten sich auf Anfrage britischer Medien bisher nicht.
Bayerische Meta-Studie fand bisher keine Wirksamkeit von Ivermectin
Um zu einer klaren Aussage zu kommen, sind in der Medizin und in anderen Wissenschaften Meta-Studien gängige Praxis. Dabei werden die bereits vorhandenen Studien mit hohen Qualitätsstandards gebündelt untersucht. Das kumulierte Ergebnis gilt dann meist als besonders aussagekräftig.
Auch für Ivermectin gibt es solche Meta-Studien bereits, eine der bekanntesten kommt aus Bayern. Ein Team um Biologin Stephanie Weibel und Ärztin Maria Popp vom Uniklinikum Würzburg untersuchte 14 Studien mit 1.678 Teilnehmenden. Ihre Meta-Studie publizierten sie im August dieses Jahres. Neun dieser Studien befassten sich mit Covid-19-Patienten, die im Krankenhaus behandelt wurden, vier mit ambulant Behandelten und eine Studie mit der Prävention gegen eine Corona-Infektion.
Nach der derzeitigen Studienlage sei die Wirksamkeit von Ivermectin gegen Covid-19 nicht bewiesen, schreiben Weibel und Popp: "Wir fanden keine Evidenz, die den Einsatz von Ivermectin zur Behandlung oder Vorbeugung einer Covid-19-Infektion stützt, allerdings ist die vorhandene Evidenz begrenzt." Auf #Faktenfuchs-Anfrage schreiben Weibel und Popp: "In anderen Worten, wir wissen nicht, ob Ivermectin hilfreich ist oder nicht im Kampf gegen Covid-19." Und ohne bewiesenen Vorteil seien die möglichen negativen Nebenwirkungen höher zu gewichten. Ivermectin solle deswegen nur im Rahmen gut designter wissenschaftlicher Studien eingesetzt werden, empfehlen Weibel und Popp.
Neue aussagekräftige Studien werden erwartet
Dass es noch keine klare Aussage geben kann, ob Ivermectin gegen Covid-19 hilft oder nicht, sei auch der bisherigen Studienqualität geschuldet, schreiben die beiden Wissenschaftlerinnen. Der bisherige Pool an Studien bestehe vor allem aus kleinen Untersuchungen, die in ihrer Qualität begrenzt seien. Das sei auch der Fall bei der einzigen begutachteten Studie zur Prävention mit Ivermectin. Ein präventiver Effekt solle deswegen ebenfalls nur in wissenschaftlichen Studien untersucht werden.
Allerdings kann die Wissenschaft durch die Forschung zu Ivermectin wahrscheinlich bald bessere Aussagen treffen. "Drei größere Studien (PRINCIPLE, COVID-OUT, und ACTIV) sind unterwegs und werden dann hoffentlich die Evidenz anheben und wir wissen sicher, ob es nun hilft oder nicht", schreiben Weibel und Popp dem #Faktenfuchs. Die PRINCIPLE-Studie läuft seit dem Juni 2021 in Großbritannien und ist eine große Studie mit bisher knapp 8.000 Teilnehmern, bei der die Behandlungsmöglichkeiten gegen Covid-19 außerhalb einer Klinik erforscht werden. Sobald Ergebnisse dieser Studie vorliegen, wollen auch Weibel und Popp ihre Meta-Studie damit überarbeiten.
Hersteller und Gesundheitsbehörden warnen vor eigenmächtigen Ivermectin-Gebrauch
In der Zwischenzeit warnen der Hersteller und die Gesundheitsbehörden vor dem eigenmächtigen Gebrauch von Ivermectin. Aufgrund der Vorfälle in Österreich meldete sich der Hersteller Merck, Sharp & Dome (MSD) zu Wort. "MSD spricht sich im Einklang mit den gängigen medizinischen Empfehlungen daher klar gegen die Einnahme bei COVID-19 aus", schrieb der österreichische Zweig des Pharmaunternehmens. Stattdessen solle man sich lieber impfen lassen: "MSD möchte abschließend festhalten, dass die C19-Impfung bei der Pandemiebekämpfung an erster Stelle steht".
Das Robert Koch-Institut, in Deutschland zuständig für Seuchenbekämpfung, empfiehlt mit Stand vom 20. Oktober den "Einsatz zur Therapie oder Prophylaxe nur im Rahmen von kontrollierten klinischen Studien". Es bestehe das "Risiko der schwerwiegenden Toxizität bei unkontrollierter Anwendung". Im Klartext: Bei eigenmächtigen Gebrauch könne man sich vergiften.
Die FDA warnte bereits im März dieses Jahres: Als schwere Nebenwirkungen bei selbständiger Ivermectin-Einnahme könnten Erbrechen, Durchfall, Magenschmerzen, Gesichtsschwellungen und Leberbeschwerden wie Hepatitis auftreten, bis hin zur Einweisung ins Krankenhaus.
Fazit
Es gibt derzeit keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass Ivermectin bei Menschen gegen Covid-19 präventiv wirkt oder die Genesungschancen verbessert. Bei Einnahme von Ivermectin besteht jedoch die Gefahr einer Überdosierung und Vergiftung.
Deswegen sollten Privatpersonen Ivermectin auf keinen Fall einnehmen, warnen der Hersteller und Gesundheitsbehörden. Aktuell laufen weitere Studien, die neue Erkenntnisse zum Nutzen oder der Gefährlichkeit von Ivermectin bei einer Covid-19-Behandlung versprechen.
Hinweis: In einer früheren Version des Artikels haben wir den Mediziner Franz Brettner als "Oberarzt" bezeichnet. Wir haben dies korrigiert.
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