Auf einem Bauernhof in Unterfranken sind im vergangenen Jahr 2.000 Schweine verendet. Dem 29 Jahre alten Landwirt drohten wegen Verstößen gegen das Tierschutzgesetz bis zu drei Jahre Gefängnis. Doch die Staatsanwaltschaft Würzburg stellte das Ermittlungsverfahren ein. Der Landwirt war laut einem medizinischen Gutachten zum Zeitpunkt seiner Pflichtverstöße schuldunfähig. BR24-Nutzer reagierten empört, in Deutschland werde jeder "immer gleich für schuldunfähig erklärt".
Doch lässt es sich statistisch belegen, dass immer mehr mutmaßliche Täter für schuldunfähig erklärt werden? Was steht im Gesetz und wie wird man überhaupt für schuldunfähig erklärt? Der #Faktenfuchs hat Gesetze und Statistiken geprüft.
Wer ist schuldunfähig?
Auch wenn Menschen vorsätzlich Straftaten begehen, kann es sein, dass sie doch nicht bestraft werden, weil sie schuldunfähig sind. Klassischer Fall: Kinder sind nach dem Strafgesetzbuch (StGB) schuldunfähig, wenn sie bei Begehung einer Straftat jünger als 14 Jahre alt waren (§ 19 StGB). So steckten zwei vier und sechs Jahre alte Brüder am 12. August in Kulmbach einen Carport in Brand, fluteten einen Keller und besprühten mehrere Autos mit Farbe. Sie werden trotzdem straffrei bleiben. Sie waren – so hält es das deutsche Gesetz - nicht in der Lage, ihr Tun richtig einzuschätzen. Jugendliche (14 bis 18 Jahre) sind bedingt schuldfähig (§ 3 Jugendgerichtsgesetz), Heranwachsende (18 bis 21 Jahre) sind schuldfähig, es sei denn, sie haben noch nicht die sittlich-geistige Reife und werden in diesem Fall wie Jugendliche behandelt (§§ 105,106 Jugendgerichtsgesetz).
Erwachsene sind "unbedingt schuldfähig", so dass die Frage der Schuldunfähigkeit nur dann geprüft wird, wenn ein besonderer Anlass dazu besteht. Dies gilt zum Beispiel dann, wenn sie eine Straftat unter einer krankhaften seelischen Störung begangen haben, so dass sie das Unrecht ihrer Tat nicht einsehen konnten. Dann handeln sie ohne Schuld (§ 20 StGB). Gegen diese Menschen können aber Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden, soweit dies im Verhältnis zur begangenen Straftat steht. Dazu später mehr. Zunächst der Wortlaut des Gesetzes:
"Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln." § 20 StGB, Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
Unter einer "krankhaften seelischen Störung" versteht man eine psychische (intellektuelle oder emotionale) Störung, die auf nachweisbaren oder vermuteten organischen Ursachen beruht, zum Beispiel Hirnarteriosklerose, Epilepsie, aber auch Schizophrenie und andere krankheitsbedingte Psychosen. Die "tiefgreifende Bewusstseinsstörung" bezeichnet nicht-krankhafte Zustände (Erschöpfung, Hypnose, Alkoholeinwirkung).
"Schwachsinn" wird im Rechtslexikon des Dudens als angeborene Intelligenzschwäche ohne nachweisbare organische Ursache kategorisiert. Als "schwere andere seelische Abartigkeiten" kommen Psychopathien, Neurosen und Triebstörungen in Betracht, die individuell bewertet werden müssen und nicht in jedem Falle zu Schuldunfähigkeit führen. Was die antiquierte Terminologie des Paragraphen angeht, fordern psychiatrische Experten seit langem eine Revision des Gesetzes.
Schuldunfähigkeit immer nur nach individueller Bewertung
Die Annahme einer generellen Schuldunfähigkeit eines Menschen ist nicht möglich. Das Gericht muss immer anhand der konkreten Tat (mit Hilfe eines Sachverständigen) feststellen, ob beim Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die "ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB fällt" (BGH, Beschluss 24.10.2018, BGH 1 StR 457/18). Danach prüft es, inwieweit sich diese Störung auf den Täter auswirkt und ob diese die psychische Funktionsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tatbegehung beeinträchtigte. Dann kann das Gericht Schuldunfähigkeit feststellen oder die Strafe wegen verminderter Schuldfähigkeit mildern (§ 21 StGB).
Auch Drogen und Alkohol können zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung führen. Eine Schuldunfähigkeit nach Paragraph 20 StGB kommt in der Regel bei mehr als 3,0 Promille in Betracht. Zwischen 2,0 und 3,0 Promille ist der Angeklagte in der Regel vermindert schuldfähig nach Paragraph 21 StGB. Dabei handelt es sich aber nicht um feste Richtlinien. Bei verminderter Schuldfähigkeit eines Täters erfolgt zwar eine gerichtliche Verurteilung, die Strafe kann aber nach Paragraph 49 StGB gemildert werden.
Allerdings: Wer sich gemäß Paragraph 323a StGB (Vollrausch) "vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht und ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist."
Die Rolle der psychiatrischen Sachverständigen
Die Schuldfähigkeit wird von psychiatrischen Sachverständigen beurteilt. Das Gericht kann auch eine höchstens sechswöchige Beobachtung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen (§ 81 Strafprozessordnung). Ob Schuldfähigkeit vorliegt, hat das Gericht in eigener Verantwortung zu entscheiden – es muss dem ärztlichen Gutachten nicht folgen. Oftmals fragen Richter in der Hauptverhandlung den oder die Sachverständigen auch nach der Rückfallprognose des Beschuldigten. Die Antworten auf diese Fragen können Einfluss auf den Unterbringungsort und auf die Dauer des Freiheitsentzugs haben.
Wird jemand als schuldunfähig, jedoch rückfallgefährdet eingestuft, kann das Gericht einen sogenannten Maßregelvollzug anordnen. Maßregeln sind nicht von der Schuld eines Individuums abhängig, sie sind auch nicht als Strafen für ein Vergehen oder für eine Schuld vorgesehen, sondern sie sollen in erster Linie der Sicherung der Allgemeinheit dienen. Maßregeln sind unter anderem die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB)
2017: 0,2 Prozent aller Ermittlungsverfahren wegen Schuldunfähigkeit eingestellt
Kommen wir zu den Zahlen. Die Staatsanwaltschaften sind für die Verfolgung von Straftaten und für die Leitung der entsprechenden Ermittlungen zuständig. Wenn sich aus den Ermittlungen ein hinreichender Tatverdacht ergibt, dann erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage beim zuständigen Gericht. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht jährlich die Staatsanwaltschaftsstatistik. Im Jahr 2017 endeten von den rund 4,9 Millionen erledigten Verfahren 10.812 mit der Einstellung ohne Auflage wegen der Schuldunfähigkeit des Beschuldigten nach Paragraph 20 StGB: Das sind 0,2 Prozent.
Schuldunfähigkeit: Die Zahlen sind konstant niedrig
Schauen wir auf die Strafverfolgungsstatistik. Aus ihr gehen die Zahlen der beschuldigten Personen hervor. Die Statistik wird erst seit 2007 in allen Bundesländern einheitlich erhoben. Um die Zahlen zu verstehen, müssen wir den Unterschied zwischen "abgeurteilt" und "verurteilt" klären.
💡 BR24 erklärt "abgeurteilt / verurteilt"
Verurteilte sind Straffällige, gegen die nach allgemeinem Strafrecht Freiheitsstrafe, Strafarrest oder Geldstrafe verhängt oder deren Straftat nach dem Jugendstrafrecht zum Beispiel mit einer Jugendstrafe geahndet wurde.
Abgeurteilte sind Angeklagte, gegen die Strafbefehle erlassen oder deren Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluss rechtskräftig abgeschlossen wurden. Ihre Zahl setzt sich zusammen aus den Verurteilten und aus Personen, gegen die andere Entscheidungen (zum Beispiel Einstellung, Freispruch) getroffen wurden.
Damit wären wir beim statistischen Kern: Die Zahl der schuldunfähigen Abgeurteilten ohne und mit Anordnung einer Unterbringung. Der Anteil der Schuldunfähigen an allen Abgeurteilten ist seit 2007 konstant. Er bewegt sich zwischen dem Tiefstwert von 0,07 Prozent aller Abgeurteilten im Jahr 2014 und 0,09 Prozent im Jahr 2017. Vor zwei Jahren wurden in Deutschland 813 Personen in einem Strafprozess nach Paragraph 20 StGB für schuldunfähig erklärt. Für 631 von ihnen wurde die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. 63 kamen in eine Entziehungsanstalt. Für den Rest wurde nichts angeordnet.
Auch der Prozentsatz der vermindert schuldunfähigen Verurteilten an allen Abgeurteilten nach Paragraph 21 StGB ist konstant. Zwischen 2007 (2,31 Prozent) und 2017 (2,34 Prozent) gab es kaum nennenswerte Ausschläge nach oben oder unten. Vor zwei Jahren galten 16.753 Personen der insgesamt 716.044 Verurteilten als vermindert schuldfähig.
Tierschutzverstöße: Nur ein Schuldunfähiger im Jahr 2017
Warum der Landwirt im Landkreis Würzburg schuldunfähig war, darüber berichtet die Staatsanwaltschaft Würzburg aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht. Das psychologische Gutachten wurde rückblickend für die Zeit der Verfehlungen des Landwirts, also vom Jahr 2017 an, angefertigt. Bei der Wahl der Sachverständigen bedient sich die Würzburger Staatsanwaltschaft auf BR24-Anfrage aus dem Pool einer "Handvoll" Gutachter.
Bei der Recherche sind wir auch der Frage nachgegangen, ob gerade bei Verstößen gegen das Tierschutzgesetz häufig Schuldunfähigkeit festgestellt wird. Die Antwort: nein. Im Jahr 2017 wurde ein einziger der 963 Abgeurteilten für schuldunfähig erklärt. Fünf Menschen wurden bei verminderter Schuldfähigkeit verurteilt. Das teilte uns das Statistische Bundesamt mit.
Fazit:
Die Annahme, in Deutschland würden sehr viele oder eine zunehmende Zahl von Personen schuldunfähig gesprochen, lässt sich nicht belegen. Über die vergangenen zehn Jahre wurde nur ein geringer Teil von Personen nach Paragraph 20 StGB für schuldunfähig erklärt. Grundsätzlich müssen bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit psychologische Sachverständige hinzugezogen werden, am Ende entscheidet aber der Richter über die Schuldfähigkeit der Angeklagten.