Bisher ist es nur ein Vorschlag, den Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer in der vergangenen Woche vorgelegt hat. Er soll die Straßenverkehrsordnung (StVo) reformieren. Nach Scheuers eigener Auskunft soll die Neuregelung den Verkehr „sicherer, klimafreundlicher und gerechter" machen.
Bereits unmittelbar nach der Ankündigung wurde Kritik an den Vorschlägen laut: Vielen Umweltschützern gehen sie nicht weit genug . Andererseits: Es ist Aufgabe des Verkehrsministers, Gerechtigkeit für alle Verkehrsteilnehmer herzustellen. Wir haben Verkehrs-Experten um eine Einschätzung gebeten: Hält der Entwurf, was er verspricht? Ohnehin müssen die Bundesländer dem Entwurf im Bundesrat noch zustimmen. Doch wenn alles gut geht, könnten die Änderungen schon 2019 in Kraft treten.
Die wichtigsten Maßnahmen im Faktencheck
Die ganze Novelle enthält viele Vorschläge - für diesen Faktencheck haben wir uns auf die wichtigsten konzentriert und verschiedene Experten gebeten, sie unter den Punkten Klimaverträglichkeit, Sicherheit und Gerechtigkeit zu bewerten. Die ganze Liste mit allen geplanten Maßnahmen finden Sie hier. Die Experten, die die Maßnahmen für uns einordnen, sind:
1. Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Die UDV ist Teil des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft und ist nach eigener Aussage einer der größten Auftraggeber für universitäre und außeruniversitäre Forschung zur Verkehrssicherheit in Deutschland. Er sagt: "Man kann mit den Vorschlägen ganz gut leben – aber der Entwurf ist nicht aus einem Guss. Und er privilegiert Radfahrer über Fußgänger, obwohl beide geschützt werden müssen."
2. Uta Bauer, Expertin für Stadt- und Regionalverkehr beim Deutschen Institut für Urbanistik. Sie sagt: "Ich habe mich grundsätzlich gefreut, dass da etwas passiert in die richtige Richtung. Aber die Reform ist in vielen Punkten zu kurz gesprungen."
3. Anne Klein-Hitpaß, Projektleiterin Städtische Mobilität bei der Agora Verkehrswende, einem Think-Tank, der von der Mercator Stiftung und der European Climate Foundation finanziert wird. Sie sagt: "Insgesamt sind gute Vorstöße und Maßnahmen dabei. Was fehlt, ist die übergeordnete Zielstellung. Die StVo ist insgesamt von einem starken Ungleichgewicht geprägt. Denn rein faktisch ist das Auto heute auf den Straßen im Vorteil. Die Flächen sind sehr ungerecht verteilt. Und die StVo ist auf das Auto ausgerichtet. Umwelt-, Gesundheits- und Klimaschutzaspekte müssten deshalb viel stärker bedacht werden."
4. Verschiedene Verkehrs- und Rechtsexperten des ADAC: "Viele der angestrebten Änderungen der StVO zielen aus Sicht des ADAC in die richtige Richtung. Gerade in den Städten müssen mehr Anstrengungen unternommen werden um den Verkehr klimafreundlicher und für alle sicherer zu machen. Der jüngste Anstieg der Unfallzahlen bei Radfahrern zeigt, dass mehr für deren Sicherheit getan werden muss."
Die einzelnen Maßnahmen im Experten-Check
Parken wird teuer: Wer in zweiter Reihe, auf Geh- und Radwegen oder auf Schutzstreifen parkt, muss in Zukunft bis zu 100 Euro Bußgeld rechnen. Bisher waren es nur 15 Euro.
Brockmann, UDV: Als Unfallforscher will ich mich über höhere Bußgelder nicht beschweren. Aber ich frage mich schon: Ist das die richtige Justitierung? Klar, das Parken in zweiter Reihe ist potentiell gefährlich. Aber es ist ein absolut nachrangiges Problem. Viel mehr Unfälle passieren an Grundstücksein- und ausfahrten, an Einmündungen und Kreuzungen oder wenn Autofahrer Autotüren unbedacht zur Straße hin öffnen. Für Fußgänger sind vor allem PKW-Geschwindigkeiten ein Problem. Dort hätte man ansetzen sollen: In anderen europäischen Ländern wird teilweise das Zehnfache für Geschwindigkeitsüberschreitungen verlangt!
Bauer, DIFU: Die Forderung steht ja schon lange im Raum. Aber die Einhaltung muss natürlich auch kontrolliert werden. Den Kommunen fehlt das Personal, um das rund um die Uhr zu überwachen. Im Ausland macht man das teilweise digital – mit Kameras. Doch das ist in Deutschland rechtlich noch nicht möglich.
ADAC: Dies dürfte ohne konkrete Gefährdung von Radfahrern oder Fußgängern nicht verhältnismäßig sein im Vergleich mit anderen schweren Verstößen. Das folgenlose Parken in einer Feuerwehrzufahrt kostet beispielsweise nur 35 Euro.
320 Euro bei Missachtung von Rettungsgassen: Keine Rettungsgasse gebildet? Dann drohen in Zukunft Bußgelder zwischen 200 und 320 Euro sowie ein Monat Fahrverbot und der Eintrag von zwei Punkten im sogenannten Fahreignungsregister in Flensburg.
Klein-Hitpaß, Agora Verkehrswende: Es ist völlig richtig, dass das künftig viel Geld kostet. Aber ehrlich gesagt gibt es auch heute schon Strafen von bis zu 320 Euro beim Nichtbilden einer Rettungsgasse. Gaffer zahlen sogar bis zu 1000 Euro Strafe und können teilweise mit Freiheitsentzug bestraft werden. Insofern sind 320 Euro keine wirklich harte Strafe.
ADAC: Der Vorstoß ist konsequent, wenn auch derjenige, der eine Rettungsgasse missbräuchlich benutzt mit Bußgeldern zwischen 200 und 320 Euro belangt werden kann - nicht nur derjenige, der eine Rettungsgasse nicht bildet.
Bauer, DIFU: Im internationalen Vergleich sind unsere Bußgelder extrem niedrig - außerdem wurden sie seit Jahrzehnten nicht angehoben. Insofern ist das allein aus Gründen der Inflationsanpassung angemessen. Insofern habe ich gegen den Vorschlag nichts einzuwenden.
Mehr Sicherheit für Fahrradfahrer und Fußgänger
Überholverbot von Radfahrenden und Mindestabstand beim Überholen: Wenn es zu eng und unübersichtlich wird an einer Stelle auf der Straße, kann die Stadt oder Gemeinde ein Überholverbot von Fahrrädern und anderen einspurigen Fahrzeugen verhängen. Außerdem sollen künftig mindestens 1,5 Meter Sicherheitsabstand innerhalb und zwei Meter außerhalb von Ortschaften gelten - diesen Abstand müssen Kraftfahrzeuge beim Überholen von Fußgängern, Radfahrern und Elektrokleinstfahrzeugen einhalten. Bisher schreibt die Straßenverkehrsordnung lediglich einen "ausreichenden Seitenabstand" vor.
Brockmann, UDV: Eine von beiden Regelungen hätte völlig ausgereicht - entweder ein Verbot oder ein Mindestabstand! Das zeigt, dass das Gesetz nicht wirklich durchdacht ist. Dort, wo genügend Platz zum Überholen vorhanden ist, wird niemand ein Verbot verhängen. Und dort, wo nicht genügend Platz ist, gilt der Mindestabstand. Wer den nicht wahren kann, darf ohnehin nicht überholen. Aber immerhin: Bisher wurden die 1,5 Meter nur durch die Rechtssprechung definiert. Autofahrer kannten die genaue Distanz nicht. Das wird sich jetzt vielleicht ändern.
Klein-Hitpaß, Agora Verkehrswende: Mehr Sicherheit für Radverkehr – das ist eine zentrale Maßnahme. Es braucht dafür aber in allererster Linie eine sichere Infrastruktur. Und: 1,5 Meter sind in der Rechtssprechung ohnehin bereits gängige Praxis. Nur: Wie soll das auf viel befahrenen Straßen kontrolliert werden? So ein Überholvorgang dauert ein paar Sekunden. Wir brauchen eher eine sichere Rad- und Fußwege-Infrastruktur, die in Netzen denkt. Und: Die Radwege müssen breit genug sein.
Bauer, DIFU: Der Vorschlag klingt nett, ist aber eigentlich populistisch. Das Problem ist doch, dass die Infrastruktur für Fahrradfahrer oft gar nichts anderes zulässt, als zu nah zu überholen. Man müsste dem Auto eigentlich einen Teil der Fahrbahn wegnehmen und mehr Platz für Fahrräder schaffen.
Freigabe von Busspuren: Künftig dürfen auch Fahrzeuge mit mehr als drei Insassen die Busspuren benutzen. Ein neues Verkehrszeichen soll das signalisieren. Auch Elektrokleinstfahrzeuge können - wenn die zuständige Straßenverkehrsbehörde das sinnvoll findet - auf Busspuren zugelassen werden. Diese Möglichkeit besteht schon seit 2015 für elektrisch betriebene Fahrzeuge.
ADAC: Die StVO-Novelle würde den Rechtsrahmen schaffen, anhand dessen Kommunen sich die Eignung im Einzelfall anschauen. Sie würden dann prüfen, ob die Nutzung der Busspur durch Pkw mit mindestens drei Insassen nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit von Buslinien führen würde. Wenn dies nicht der Fall ist, kann die Freigabe in Betracht kommen.
Klein-Hitpaß, Agora Verkehrswende: „Jede Stadt soll künftig selbst entscheiden können, ob sie die Busspuren öffnet. Es gibt aber gar nicht so viele Städte mit Busspuren. Da wird also eine Maßnahme prominent hervorgehoben, die oft gar nicht zur Verfügung steht. Und: Ziel von Busspuren ist es, den öffentlichen Verkehr zu beschleunigen und attraktiver zu machen. Wenn sich jetzt noch Autos mit drei Personen zu den Bussen zwängen, wird das die Spuren verstopfen und das Ziel wird konterkariert. Es wird wahrscheinlich zur Folge haben, dass dann auch noch andere Pkw die Busspuren illegal benutzen. In meinen Augen ist das eine faktische Abschaffung der Busspur."
Brockmann, UDV: "Ich halte das für unklug, denn es wird zu 'Nachzieheffekten' kommen: Bisher respektieren gefühlt etwa 90 Prozent der Verkehrsteilnehmer die Busspur - weil jeder PKW sofort als illegal erkennbar ist. Wenn jetzt aber PKWs mit drei Insassen dort fahren dürfen, wird jeder andere Pkw auch rauffahren. Den Unterschied kann doch von außen keiner erkennen."
Bauer, DIFU: "Ich finde den Vorschlag lächerlich. Wir haben intern schon vermutet, dass das eine Verbeugung vor der Automobilindustrie ist – weil Firmen wie VW, BWM und Daimler jetzt zunehmend auch ride-pooling und ride-sharing anbieten. Das alles ist nicht zu kontrollieren. Es wird nur dazu führen, dass der ÖPNV langsamer, weniger attraktiv und teurer wird."
Generelles Halteverbot auf Fahrrad-Schutzstreifen: Auf Schutzstreifen - markiert durch eine gestrichelte Linie auf der Straße - soll künftig ein generelles Halteverbot für Pkw eingeführt werden. Bislang können Autos noch bis zu drei Minuten dort halten.
Brockmann, UDV: "Der Vorschlag ist sinnvoll. Es hat sich mir ohnehin nie erschlossen, warum das Parken dort bisher erlaubt war. Es wurde also höchste Zeit."
Bauer, DIFU: "Schöne Idee, aber auch hier gilt: Wer soll das überwachen? Auch bisher sind ja nur drei Minuten Parken erlaubt und auch das wird nicht kontrolliert, weil das Personal fehlt. Ich weiß also nicht, was sich daran künftig ändern sollte."
Klein-Hitpaß, Agora Verkehrswende: "Letztlich landet man immer wieder bei demselben Punkt: Wir brauchen eine gerechtere Raumverteilung auf den Straßen. Und eben das erreicht die Novelle nicht – da streut man uns Sand in die Augen. Ich will die einzelnen Maßnahmen nicht schlecht machen, aber das Gesamtpaket hält nicht, was es verspricht: einen klimafreundlichen, sicheren und gerechten Verkehr."