Auf dem dunklen Parkplatz im Gewerbegebiet der nordwestbosnischen Stadt Velika Kladusa stehen etwa 30 Migranten und Flüchtlinge für Essen an. Manche hoffen auch auf warme Kleidung oder Schuhe. Eine der wenigen Lichtquellen ist die Stirnlampe von Simon. Sie wirft einen Lichtkegel auf das blaue Klemmbrett des 23-jährigen Aktivisten. Simon hakt darauf die Namen der Flüchtlinge und Migranten ab, die sich für die heutige Hilfslieferung über Facebook angemeldet haben und sagt: „Die wohnen hier im Wald, oder am Fluss oder in verschiedenen Gegenden.“
"Wir leben im Wald"
Die Männer, die heute gekommen sind, schützen sich vor der Dezemberkälte so gut sie können. Einige sind in Decken gehüllt, andere tragen mehrere Kleidungsschichten übereinander. Wieder andere haben trotz Temperaturen um die null Grad keine richtigen Schuhe – immer wieder blitzen in der Dunkelheit nackte Füße auf, die in Flip-Flops oder Badelatschen stecken.
Gestern habe er nur Brot gegessen, sagt ein Mann aus Pakistan, der seinen Namen nicht veröffentlichen möchte. Deshalb sei er auf die Essensausgabe angewiesen:
„Wir leben im Wald. Manchmal kommen Hilfsorganisationen zu und bringen Essen. Aber nicht so viel.“
Die Hilfspakete auf dem Parkplatz sind verteilt. Und Simon und seine Teamkollegen ziehen schnell weiter zum nächsten Treffpunkt: „Wir haben insgesamt eine lange Liste heute, eine so lange hatten wir noch nie."
Drohungen gegen private Helfer
Die Arbeit der Aktivisten der österreichischen Nichtregierungsorganisation 'SOS-Balkanroute' wirkt geradezu konspirativ. Und das aus gutem Grund: Velika Kladusa liegt im Una Sana Kanton – und die Behörden hier sehen private Hilfe für Flüchtlinge und Migranten überhaupt nicht gerne. Hinzu kommt: Aggressive Bürger, die sich meist über Facebook organisieren, bedrohen Helfer wie Simon. Deshalb möchte er seinen Namen nicht veröffentlichen und die NGO hält auch den genauen Standort ihrer Küche geheim und den Ort, wo sie Vorräte lagern. Dennoch versorgen die Aktivisten fast jeden Tag die gestrandeten Menschen. Meist im Schutz der Dunkelheit.
Wenn wir zu vorsichtig sind, dann können wir auch keinen Leuten helfen. Deswegen machen wir das, was geht. Und wenn wir halt aus dem Land verwiesen werden, dann ist es halt so - dann kommen andere nach. Sonst können wir irgendwie gar keinen Leuten helfen. Simon , Aktivist der österreichischen Nichtregierungsorganisation "SOS-Balkanroute"
Hotspot der Balkanroute
Bereits seit 2017 ist der Nordwesten Bosnien und Herzegowinas zum Hotspot der so genannten Balkanroute geworden. Zehntausende Migranten und Flüchtlinge sind in den vergangenen Jahren durch die Gegend gekommen. Von hier aus versuchen sie, die nahegelegene Grenze zum EU-Land Kroatien zu überqueren. Einigen gelingt das, andere werden von der kroatischen Grenzpolizei aufgegriffen und in vielen Fällen gewaltsam und illegal nach Bosnien und Herzegowina zurückgeschickt.
Humanitäre Lage ist dieses Jahr besonders prekär
Dieses Jahr ist die humanitäre Lage der Flüchtlinge und Migranten besonders prekär. Schätzungsweise 1.000-1.500 sind obdachlos, weil die offiziellen Camps überfüllt sind und niemanden mehr aufnehmen. Simon von "SOS-Balkanroute" sagt, dass er lieber hier vor Ort hilft, als zuhause in Österreich im Corona-Lockdown zu sitzen.
Es tut gut zu sehen, dass man hier auch was tun kann. Heute morgen haben wir beim Einkaufen auch wieder locker fünf bis zehn Leute gesehen, die keine Schuhe, sondern nur Schlappen anhatten. Und es ist gerade knapp über Null Grad. Und wenn wir dann Schuhe, Socken und Pullis an sie verteilen können, dann ist das schon eine Arbeit, die Sinn ergibt und auch erfüllend ist. Simon , Aktivist der österreichischen Nichtregierungsorganisation "SOS-Balkanroute"
Großes Flüchtlingscamp steht vor Auflösung
Die Arbeit von Freiwilligen vor Ort könnte in den kommenden Tagen noch wichtiger werden. Eine Autostunde von Velika Kladusa entfernt liegt die Stadt Bihac. Nahe der Stadt liegt ein großes Flüchtlingscamp, das bald geschlossen werden könnte. Es sei für die Unterbringung von Menschen im Winter völlig ungeeignet sagt die Internationale Organisation für Migration (IOM), die das Camp betreibt. IOM schlägt Alarm und stellte die Regierung in Sarajevo vor die Wahl: Sollte sie keine winterfeste Lösung für die ca. 1.300 Menschen finden, die zur Zeit im Camp leben, will IOM seine Mitarbeiter dort abziehen. Die Menschen wären dann auf sich gestellt.
Die Menschen auf die Straße zu setzen, wäre das letzte und schlimmste Szenario. Wir hoffen immer noch, dass eine faire Lösung für die Menschen gefunden wird, so lange das Camp Lipa winterfest gemacht wird. Natasa Omerovic, IOM-Campmanagerin
Bevölkerung fühlt sich alleingelassen
Eine mögliche Lösung könnte das Camp "Bira" in der Stadt Bihac sein. Es hätte platzt für rund 2.000 Menschen steht aber seit dem Sommer leer. Es ist nach Protesten geschlossen worden, weil Teile der Bevölkerung und die Stadtverwaltung keine Migranten und Flüchtlinge mehr in der Stadt haben wollen. Sie fühlen sich mit der Situation alleine gelassen und verlangen, dass Flüchtlinge und Migranten in ganz Bosnien und Herzegowina verteilt werden. Doch eine solche Lösung ist nicht in Sicht. Stattdessen setzt sich der für Migration zuständige Sicherheitsminister Selmo Cikotic dafür ein „dass wir die Kapazitäten in "Bira" temporär nutzen, um die Migranten dort zeitlich begrenzt unterzubringen, also für zwei bis drei Monate“. Doch das kommt für Bihacs Bürgermeister Suhret Fazlic nicht in Frage. Er wehrt sich vehement.
Wir werden eine Unterbringung in "Bira" nicht zulassen. Ich erwarte von der Polizei, das mit allen Mitteln zu verhindern. Wenn Migranten ohne unsere Zustimmung nach Bira gebracht werden sollten, werden wir das als offenen Angriff oder einen aggressiven Akt gegen die Stadt Bihac verstehen. Suhret Fazlic, Bürgermeister von Bihac
Nach ARD-Informationen sind in "Lipa" bereits erste Zelte abgebaut worden und die IOM-Mitarbeiter bereiten ihren Abzug vor. Die Campbewohner sind informiert und warten nun auf die Information, ob sie gehen müssen und wohin sie dann gebracht werden.