Das französische Wahlsystem ist mit dem deutschen überhaupt nicht vergleichbar. Wenn die Franzosen nach dem deutschen Verhältniswahlrecht verfahren würden, dann hätte etwa der extrem rechte Rassemblement National mit der mehrfachen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen schon seit vielen Jahren eine bedeutende Fraktion in der Assemblée Nationale, der Nationalversammlung.
Bei der vergangenen Wahl 2017 gewann Le Pens Partei jedoch nur acht von 577 Wahlkreisen. Emmanuel Macrons Partei La République en marche, damals 28,2 Prozent im ersten Wahlgang, errang 308 Sitze und damit die absolute Mehrheit. Das hat damit zu tun, dass es in Frankreich zwei Wahlrunden gibt und sich nur der stärkste Kandidat durchsetzt.
Französischer Präsident mit enormer Machtfülle
Der Gründer der Fünften Republik und deren erster Präsident Charles de Gaulle wollte ein System mit einem klaren politischen Führer. Der Präsident ist in Frankreich mit einer enormen Machtfülle ausgestattet. Er kann das Militär mit einem Handstreich entsenden und den Abwurf einer Atomrakete anordnen.
Das Parlament und auch die Regierung samt Premierminister, seit kurzem Premierministerin, spielen meist nur Nebenrollen. Der Präsident ernennt den Regierungschef und kann ihn und das gesamte Kabinett entlassen.
Der große Bluff des Jean-Luc Mélenchon
Deshalb zeugte es von einer großen Chuzpe als der linke Präsidentschaftskandidat von einer "dritten Runde" anlässlich der Wahlen zur Nationalversammlung sprach, bei der die Franzosen ihn zum Premierminister wählen könnten. Diese Aussage widerspricht dem Gedanken des gesamten französischen Politiksystems. Jean-Luc Mélenchon, der alteingesessene Mitgründer des "Unbeugsamen Frankreichs" (La France Insoumise) weiß das natürlich, doch die Strategie ist ein großer Bluff, der bis dato voll aufgeht.
Mélenchon, wegen seiner Positionen zu Nato, EU und Russland durchaus umstritten, gelang das Meisterstück, seine linken Wegbegleiter mit den Kommunisten, Grünen und sogar einem Großteil der Sozialisten in einer Koalition zu vereinen. Diese heißt Nouvelle union populaire écologique et sociale, kurz Nupes.
Linke Parteien stellen viel mehr Abgeordnete
Statt in jedem Wahlkreis gegeneinander zu kandidieren und sich damit die Chancen zu vermiesen, einigte man sich im Vorfeld darauf, wer wo Kandidaten aufstellt. Die linken Parteien sind zwar, wenn man ihre Ergebnisse zusammenzählt, nicht sonderlich gewachsen im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren. Dennoch werden sie viel mehr Abgeordnete stellen als vorher angenommen. Im Parlament wird es auch keine gemeinsame Nupes-Fraktion geben, sondern jede Familie wird versuchen eine eigene Gruppe zu bilden.
Zwar lagen der sogenannte "bloc Ensemble" (ein Gebilde aus Macrons La République en Marche, der Zentrumspartei MoDem und der Mitte-Rechts-Partei Horizons des ehemaligen Premierministers Édouard Philippe) und Nupes in der ersten Runde vor einer Woche gleichauf. Doch erwarten alle Umfrageinstitute, dass die Macron-unterstützenden Parteien mehr Reserven in der zweiten Runde haben dürften.
Es wird erwartet, dass Ensemble zwischen 252 und 307 Abgeordnete stellen dürfte, die unter Nupes zusammengeschlossenen linken Parteien nur 140 bis 225. Allerdings ist damit sehr wohl möglich, dass Macrons Partei La République en marche nach der Wahl nicht mehr so wie in den Jahren zuvor durchregieren kann, sondern auf einen Koalitionspartner angewiesen sein könnte. Denn für eine absolute Mehrheit sind 289 Sitze notwendig.
Macron könnte gezwungen werden, Farbe zu bekennen
Am ehesten böten sich da die konservativen Républicains an, die zwar deutlich weniger Abgeordnete als in den Jahren zuvor stellen dürften, jedoch mit am Regierungstisch sitzen könnten. Dies wäre etwas untypisch in der französischen Politik, allerdings scheint es dem Wunsch der großen Mehrheit der Bevölkerung zu entsprechen. Etwa 70 Prozent der Franzosen sprachen sich in Umfragen dafür aus, dass es keine absolute Mehrheit für eine Partei bei den Wahlen des Abgeordnetenhauses geben dürfe.
Die linken Parteien würden Macron damit außerdem endlich zwingen, Farbe zu bekennen, selbst wenn sie keine Mehrheit erringen sollten. Macrons erklärtes Politikprinzip ist es schließlich, sich weder als links noch rechts auszugeben. In seiner Regierung finden sich sowohl ehemalige Konservative als auch Sozialisten. Bei einer Koalition mit den Républicains wäre jedoch klar, dass die Mehrheit des Präsidenten klar weiter rechts als links stehen dürfte.
Zum Artikel: "Fünf Jahre Präsident: Die Bilanz von Emmanuel Macron"
Geringe Wahlbeteiligung vorausgesagt
Jedoch bleibt die Bedeutung der Nationalversammlung in der französischen Politik durchaus umstritten, worauf ebenfalls die Wahlbeteiligung hindeutet. Auch am Sonntag wird erwartet, dass nicht mehr als die Hälfte der Franzosen den Gang zur Urne antreten werden. Die bedeutendste Abstimmung bleibt nun mal die über den Präsidenten, die Macron erst Ende April für sich entschied.
Debatten im Parlament werden kaum wahrgenommen. Außerdem wurden wichtige Untersuchungsausschüsse zu Affären, die für Macron und seine Minister hätten gefährlich werden können, nicht unbedingt energisch geführt. Etwa die sogenannte Affäre Benalla. Der ehemalige Koordinator über die Sicherheit des Präsidenten verprügelte in Polizeiuniform Demonstranten bei Protestmärschen in Paris.
Für Marine Le Pens Rassemblement National werden am Sonntag übrigens etwa 25 bis 50 Sitze vorausgesagt. Das wäre schon ein Riesenerfolg für die extrem rechte Partei. Die wahren Kräfteverhältnisse in der französischen Politik wird das Parlament dennoch nicht widerspiegeln.
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