Es ist schon eine Zäsur, dass Sergej Schoigu nach fast 12 Jahren vom Posten des Verteidigungsministers abberufen wird. Und das, nachdem er länger durchgehalten hat, als viele Beobachter prognostiziert hatten. Das Ansehen des ehemals beim Volks sehr beliebten Schoigu hat spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine gelitten, als die geplante schnelle Eroberung des Nachbarlandes gescheitert war. Die Kriegsführung der russischen Armee unter Schoigu geriet immer mehr in Kritik. Vor allem einer wetterte regelrecht gegen ihn, der Chef der Söldnertruppe Wagner Jewgeni Prigoschin.
Der Tiefpunkt für den Verteidigungsminister Schoigu, aber auch für Putin und seine gesamte Regierung dürfte wohl der Vormarsch der Gruppe Wagner auf Moskau gewesen sein, bei dem sie unter anderem den Rücktritt von Schoigu forderten. Auch wenn der Sturm abgebrochen wurde, sorgte er international für Aufsehen und säte Zweifel, ob das Verteidigungsministerium die Militärs und Kämpfer des Landes wirklich im Griff hat. Wagner-Chef Prigoschin kam einige Monate nach seinem Putschversuch unter ungeklärten Umständen ums Leben, aber Putin hielt an seinem angeschlagenen Verteidigungsminister, entgegen der Erwartung viele Experten, weiterhin fest – bis jetzt.
Aufstieg oder Entmachtung – das wird erst die Zeit zeigen
Viele Minister, wie zum Beispiel Sergej Lawrow, der das Außenministerium seit 20 Jahren leitet, bleiben auch im neuen Kabinett von Putin im Amt, aber Schoigu muss gehen.
Dabei sei seine Abberufung kein "Geschasst werden", denn er soll Sekretär des Sicherheitsrates werden und sich dort um die Rüstungskommission kümmern. Seine direkten Vorgesetzten sind künftig Präsident Putin und Dimitri Medwedew, der stellvertretende Vorsitzende des Gremiums. Zu den Aufgaben des Sicherheitsrats zählt die maßgebliche Mitgestaltung der Sicherheitspolitik Russlands, der Rat prognostiziert und analysiert Bedrohungen und entwickelt Maßnahmen. Es ist ein gewichtiges Gremium.
Die Spekulationen, ob die Umbesetzung von Sergej Schoigu, dennoch eine verspätete Strafe für den mangelnden Erfolg russischer Truppen im Krieg gegen die Ukraine und den Putschversuch von Wagner ist, bleiben. Die nächsten Monate werden zeigen, wie viel Gestaltungsmacht Schoigu noch gegeben wird.
Wenn alles optimal läuft, veranlasst man keinen Wechsel
Der Wechsel im Verteidigungsministerium lässt aufhorchen, gerade weil vieles im Kabinett der neuen Regierung von Putin beim Alten bleibt. Man kann diesen Schritt nur als Zeichen der Unzufriedenheit über den Kriegsverlauf in der Ukraine begreifen.
Der neue Verteidigungsminister heißt Andrej Beloussow, ist 60 Jahre alt und ein langjähriger Vertrauter von Putin. Er kümmert sich seit Jahren um die Wirtschaftspolitik Russlands, zuletzt in der Funktion des Vizepremierministers. Ein Wirtschaftswissenschaftler und kein Militär wird nun also Verteidigungsminister.
Wirtschaftsfunktionär soll für Effizienz und Innovation sorgen
Der Kreml gibt die offizielle Lesart dieser Entscheidung vor. Regierungssprecher Dmitri Peskow erklärt die Ziele, die Aufgaben, die der neue Minister zu erfüllen hat. Das Verteidigungsministerium solle absolut offen sein für Innovationen und neue Ideen sollen schnell angewandt werden. Außerdem sei es wichtig, den Wettbewerb in der Sicherheitsbranche zu fördern. Deshalb hat Präsident Putin Andrej Remowitsch Beloussov ausgewählt.
Weiter erklärt der Kreml, dass der Etat des Verteidigungsministeriums immens gewachsen sei, mittlerweile 6,7 Prozent des Brutto-Inlands-Produktes betrüge. Damit sind die Verteidigungsausgaben fast so hoch wie die der Sowjetunion Mitte der 80er Jahre, zur Zeit des Kalten Krieges.
Der Korruption den Riegel vorschieben
Der neue Verteidigungsminister müsse die Verträge an die Industrie mit einer "besonderen Aufmerksamkeit" vergeben. Beloussow soll also, da es um enorme Summen geht, unbedingt Korruption im Rüstungs- und Verteidigungssektor verhindern. Hier soll sich niemand bereichern, so die Warnung des Kremls. Vetternwirtschaft zulasten der Verteidigung des Landes wäre ein Hochverrat.
Dass einer der Vizeverteidigungsminister unter Schoigu Ende April wegen Korruptionsverdacht festgenommen wurde, deutet an, dass man dem amtierenden Minister Schoigu hier kein hartes Durchgreifen mehr zugetraut hat. Die Meldung vom Dienstagmorgen, dass nun auch noch der im russischen Verteidigungsministerium für Personalfragen zuständige General Jurij Kusnezow festgenommen wurde – wegen des Verdachts auf kriminelle Handlungen, kann als weiteres Zeichen für eine Führungsschwäche des scheidenden Ministers ausgelegt werden.
Darüber hinaus soll der neue Minister die Wirtschaft des Sicherheitsblocks in die Wirtschaft des Landes eingliedern. Die auf Hochtour laufende Rüstungsproduktion soll folglich im Hinblick auf weitere Kriegsjahre gegen die Ukraine und die Verteidigung gegen einen feindlichen Westen entwickelt und finanzierbar gestalten werden.
Ein "Putin-Beloussow-Kriegskabinett"
Beobachter im Exil deuten die Umbesetzung etwas anders. Mit Beloussow käme ein "Putinist" ins Amt, ein Etaist, der seit Jahrzehnten umsetze, was Putin wolle, so beschreibt Michail Fischman, der für den in Russland gesperrten TV-Sender Doschd berichtet, den neuen Verteidigungsminister. Ein eigenes Profil erwartet er nicht vom neuen Minister. Der setzt bereits seit Jahren nur um, was Putin wolle.
Und er prophezeit ein "Putin-Beloussow-Kriegskabinett", das das Handeln der Regierung dominieren werde. Überschüsse aus der Wirtschaft würden abgezogen und an den Staat umgeleitet. Alles werde dann so umverteilt, dass der Bedarf des Krieges gestillt werden könne.
Alexandra Prokopenko, eine ehemalige russische Zentralbankbeamtin, spitzt es zu: "Putins Priorität ist der Krieg, und ein Zermürbungskrieg wird durch die Wirtschaft gewonnen".
Ein Zivilist und kein Militär
Ob sich Putins Neubesetzung, der Wirtschaftswissenschaftler Beloussow, auch bei Armee und dem russischen Volk beweisen wird, wird sich zeigen. Im vergangenen Kriegsjahr ist für viele Russen das Bedrohungsgefühl im eigenen Land größer geworden, von einem Verteidigungsminister erwarten sie dementsprechend viel. Einige hätten sich daher einen Mann vom Fach, einen erfahrenen Militär oder Soldaten gewünscht. Aber das sei mit Putin nicht zu machen, erklärt der regierungskritische Exil-Journalist Fischman. Putin habe Angst vor militärischen Unruhen, gerade nach dem Sturm der Gruppe Wagner im vergangenen Jahr. Deshalb sei es ihm lieber, wenn Zivilisten das Verteidigungsministerium führten.
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