Auf dem NATO-Gipfel am 12. Juli in Litauen: US-Präsident Biden und der ukrainische Staatspräsident Selenskyj
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US-Präsident Joe Biden hat immer wieder die Unterstützung für die Ukraine und Präsident Selenskyj betont - doch in den USA wächst die Kritik

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Anzeichen von Ungeduld: USA mit Ukraine-Offensive unzufrieden

Zu wenig, zu spät, zu geringe Fortschritte: Knapp drei Monate nach Beginn der Gegenoffensive üben US-Offizielle deutliche Kritik an der ukrainischen Militärführung. Das tun sie nicht direkt, sondern über US-Medien. Was steckt dahinter? Eine Analyse.

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Es ist ein heikles Thema, sowohl für die US-Administration, als auch für die ukrainische Regierung: Denn wie lässt sich öffentlich Kritik an der militärischen Einsatztaktik der ukrainischen Streitkräfte äußern, ohne nicht zugleich die Ukraine und deren Fähigkeiten zur Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete zu schwächen? Jetzt, Ende August und damit bald drei Monate nach Beginn der Gegenoffensive, scheint die diplomatische Zurückhaltung der USA zu schwinden.

Was bislang offenkundig vertraulich auf Regierungs- und Militärkanälen zwischen Washington und Kiew signalisiert worden ist, wird nunmehr öffentlich gemacht. Je länger die ukrainische Gegenoffensive ohne bedeutende Fortschritte andauert, desto deutlicher formulieren amerikanische Offizielle ihr Unverständnis über die Vorgehensweise der ukrainischen Streitkräfte.

Der "New York Times" haben amerikanische und andere westliche Offizielle ohne Namensnennung ihre Hauptkritikpunkte an der ukrainischen Gegenoffensive mitgeteilt. Kurzfassung: Die Ukraine setze zu viele Einheiten, darunter die besten Kampfverbände, an den falschen Frontabschnitten ein. Und das wiederum sei größtenteils der Grund, warum der Ukraine ein entscheidender Durchbruch der russischen Verteidigungslinien nicht gelinge.

Ist das wesentliche Ziel noch zu erreichen?

Hauptziel der ukrainischen Gegenoffensive sei es, die russischen Nachschublinien im Süden der Ukraine zu unterbrechen, die für die Aufrechterhaltung der russischen Besatzungstruppen zentral sei. Dies könne nur gelingen, so die US-Offiziellen gegenüber der "New York Times", wenn die Ukraine die Landverbindung zur völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim kappen könnte. Statt sich jedoch auf diese zentrale Aufgabe zu konzentrieren, setze die Ukraine ungefähr die gleiche Anzahl an Truppen und Material im Osten bei Bachmut ein, wie im Süden Richtung Melitopol und Berdjansk.

Amerikanische Militärexperten hätten der Ukraine dazu geraten, das Erreichen der Großstadt Melitopol zu ihrem Kernauftrag zu machen. Wohl wissend, dass die russischen Besatzer das Terrain mit schwer befestigten Verteidigungslinien überzogen haben, einschließlich unzähliger Minenfelder, Panzersperren und Bunkeranlagen. Derzeit stünden die ukrainischen Einheiten circa 80 Kilometer nördlich von Melitopol. "Ich habe es schon vor Monaten gesagt", wiederholte US-Generalstabschef Mark Milley gegenüber der "Washington Post", "dass diese Offensive lang andauern, blutig sein und langsam vonstattengehen wird."

US-Geheimdienste kommen zur gleichen Einschätzung

Melitopol werde von der ukrainischen Gegenoffensive nicht mehr erreicht und damit würde das Hauptziel nicht erfüllt, die Landbrücke zur Krim in diesem Jahr zurückzuerobern. Bereits vor einigen Tagen wählten namentlich nicht genannte Quellen in den amerikanischen Geheimdiensten mit der "Washington Post" ein weltweit beachtetes US-Medium, um ihre sehr skeptischen Einschätzungen zu veröffentlichen.

Abgeordnete und Senatoren im US-Kongress seien über diesen Stand der Gegenoffensive unterrichtet worden. Schon im Februar, lange vor Beginn der ukrainischen Gegenoffensive, war ein als geheim klassifiziertes US-Dokument an die Öffentlichkeit gelangt, in dem die begrenzte Menge an Waffen und Kampfverbänden als Gründe dafür angeführt wurden, warum die Gegenoffensive nicht das Ziel erreichen würde, die Landbrücke zur Krim bis August zurückzuerobern.

Ukraine verwahrt sich gegen Kritik

"Die Krim wird befreit wie alle anderen Teile der Ukraine, die leider immer noch unter der Herrschaft der Besatzer stehen", betonte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch in Kiew erneut. Die Ukraine werde die russischen Streitkräfte aus dem Land vertreiben. Bereits des Öfteren seit Beginn der Gegenoffensive hat Selenskyj dieses Hauptziel klar benannt und auch eingeräumt, dass er sich - wie alle seine Landsleute - einen rascheren Fortgang der Gegenoffensive erhofft hätte.

Die Kritiker der Gegenoffensive könnten ja selbst mit anpacken, falls sie schnellere Ergebnisse haben wollten, mokierte sich der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba vor einer guten Woche gegenüber der französischen Nachrichtenagentur Agence France-Presse. Es sei eben einfach, aus der Ferne zu bemängeln, dass es nicht rasch genug voranginge. Ja, das Tempo der Gegenoffensive sei langsam, aber die Ukraine würde erst aufhören zu kämpfen, wenn das gesamte Staatsgebiet zurückerobert sein würde. "Uns interessiert es nicht, wie lange das dauern wird", so Kuleba weiter.

Intern würden jedoch die Einwände der westlichen Verbündeten ernst genommen: So hätten US-Generalstabschef Milley, der US-Befehlshaber für Europa, General Cavoli, und der britische Amtskollege Admiral Radakin vor zwei Wochen eine Videokonferenz mit ihrem ukrainischen Pendant abgehalten, mit General Walerij Saluschnyj. Deren Botschaft, laut "New York Times": Konzentrieren Sie sich auf einen Frontabschnitt. Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte habe dem zugestimmt.

Warum kommt jetzt öffentlich Kritik?

Es sind mehrere Faktoren, die US-Offizielle dazu bewogen haben, via großer amerikanischer Medienhäuser ihre Einwände gegen die bisherige Ausführung der ukrainischen Gegenoffensive öffentlich zu benennen. In erster Linie wirft der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf seine Schatten voraus. US-Präsident Joe Biden benötigt für eine Fortsetzung der amerikanischen Militärhilfe für die Ukraine in der bisherigen Höhe die Unterstützung der Mehrheit der Republikaner auf dem Capitol Hill - bis weit ins Wahljahr 2024 hinein.

Derzeit spricht sich eine Mehrzahl der republikanischen Kongressabgeordneten dafür aus. Doch es ist ungewiss, ob das lautstarke Lager von Ex-Präsident Donald Trump mit dem strikten Nein zur weiteren Unterstützung des angegriffenen Landes mehr republikanische Abgeordnete und Senatoren auf seine Seite ziehen kann.

Ferner scheint in Washington bereits das erwartbare "blame game" zu beginnen, also das absichtliche Wegschieben der eigenen Verantwortung für getroffene Entscheidungen. Dass namentlich nicht genannte Quellen aus den Reihen des amerikanischen Verteidigungsministeriums und der Geheimdienste nun mit ihrer Kritik an die Öffentlichkeit treten, lässt kaum einen anderen Schluss zu. Kein Zweifel: Die Anzeichen von Ungeduld mit dem bisherigen Verlauf der ukrainischen Gegenoffensive nehmen in Washington zu.

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