Löschschaum auf Flugzeugtrümmern
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Absturzstelle von Prigoschins Privatjet

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"Für alle von Vorteil": So wühlt Prigoschins Tod Russland auf

Nach einem Flugzeugabsturz, bei dem die gesamte Führung der Söldnerarmee Wagner umkam, gilt vielen russischen Beobachtern Putin als Auftraggeber, ja "Mörder". Andere verweisen darauf, dass Prigoschins mutmaßliche Ausschaltung viele "Probleme" löse.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Nach solchen Ereignissen verspürt man jedes Mal den brennenden Wunsch, in einem anderen Land aufzuwachen, einem entschlossenen, selbstlosen, selbstbewussten, gerechten. Einem, das weiß, wohin es segelt", seufzte der russische Blogger Dmitri Fedeschkin nach dem ungeklärten Absturz der Privatmaschine mit der gesamten Führungscrew der Söldnerarmee Wagner. Der Tod des Milliardärs und Privatarmeebetreibers Jewgeni Prigoschin und seines obersten Militärchefs und Richard-Wagner-Fanatikers Dmitri Utkin versetzte die russische Öffentlichkeit teils in Panik, teils in Schockstarre. Der Vorfall werde für Russlands Geschichte womöglich so prägend werden wie die Kennedy-Attentate in den USA, hieß es. Letztlich werde das Geschehen in die politische "Mythologie" des Landes eingehen. Nicht wenige Beobachter urteilen, Putin habe den Absturz direkt zu verantworten und damit eine "Botschaft an die Verräter" gesandt, doch statt sein Regime zu stabilisieren, habe er es weiter geschwächt.

Putin selbst wartete rund 24 Stunden ab, bevor er sich beiläufig zum Tod von Prigoschin äußerte, am Rande einer Begegnung mit dem Moskauer "Statthalter" in der Region Donezk, Denis Puschilin. Dabei löste der russische Präsident Verwunderung mit dem Geständnis aus, dass er Prigoschin schon seit dreißig Jahren kannte, seit Beginn der neunziger Jahre. Der Absturz sei eine "Tragödie", er warte auf die Untersuchungsergebnisse, so Putin: "Prigoschin war ein talentierter Mensch, ein begnadeter Geschäftsmann, er arbeitete nicht nur in unserem Land und zwar erfolgreich, sondern auch im Ausland, insbesondere in Afrika. Dort beschäftigte er sich mit Öl, Gas, Edelmetallen und Steinen." Der Söldnerführer habe ein "schwieriges" persönliches Schicksal gehabt und "schwere Fehler" gemacht.

"Staat gewinnt immer gegen Einzelgänger"

"Ein starker Anführer würde den Verstoß gegen seine Grundsätze entweder sofort und offen ahnden, oder sich weiterhin an die getroffenen Vereinbarungen halten und damit beweisen, dass sein Wort gilt. Stattdessen ist das Ergebnis, dass wir einen 'beschämenden Frieden' mit den Rebellen abgeschlossen haben, sowie einen 'verräterischen Stoß in den Rücken' für die viel gerühmten Helden Russlands bekamen, mit der völligen Entwertung der Garantien des Präsidenten", so ein populärer Blog.

In einem der größten News-Portale, "Russland kurzgefasst" mit knapp 500.000 Abonnenten, wird behauptet, der Tod Prigoschins "verlängere die politische Krise", wenngleich in der Elite dem Söldnerführer "niemand eine Träne nachweinen" werde. Posthum werde Prigoschin sicher nicht zum Helden stilisiert: "Die Lehre aus der Geschichte ist, dass staatliche Institutionen immer gegen isolierte, randständige Gruppen gewinnen, auch wenn sie charismatisch sind."

"Eliten sind entsetzt über sich selbst"

Der russische Kulturkritiker Alexej Minejew schrieb, anders, als das "Wallstreet Journal" behaupte, sei Putin mitnichten gestärkt: "Die Eliten sind entsetzt über die Realität, die viele ahnten, aber nicht wirklich kannten: eine Realität ohne Zukunft, mit aktuell gewaltigen Risiken, mit Dieben, Impotenten und Narren an den Hebeln der Macht, mit Fantasiekonzepten über die Welt, ihre Rolle darin und über die Realität des Landes selbst. Diese Augias-Ställe sind von unglaublicher Dimension. Die Eliten sind entsetzt über sich selbst, die das alles mit aktiver oder stillschweigender Zustimmung zugelassen haben."

Der im Ausland lehrende Politologe Wladimir Pastukow sprach von einer "unvermeidlichen Spaltung der Putin-Elite": Ein Teil wolle einen schnellen Frieden, ein anderer, dem Prigoschin nahe gestanden sei, den totalen Krieg. Diesen Machtkampf habe der Söldnerführer quasi "verkörpert": "Die Parteien werden sich jetzt nicht mehr am runden Tisch von König Artus treffen, der König selbst muss eine schmerzhafte Entscheidung herbeiführen. Es ist noch nicht offenkundig, aber wir sehen schon Anzeichen dafür, dass Putin die Partei des totalen Krieges konsequent 'zertrümmert'. Aber wofür? Wir werden es in naher Zukunft zwangsweise herausfinden."

Der amerikanische Russland-Experte Mark Galeotti äußerte ebenfalls die Vermutung, Putins Position sei erschüttert: "Die russische Elite wird das wahrscheinlich nicht als Beweis dafür auffassen, dass Putin stark ist, sondern als Beweis dafür, dass er immer wankelmütiger wird. Die Meuterei [von Prigoschin] war ein Beweis für seine Unfähigkeit, horizontale Streitigkeiten erfolgreich zu bewältigen, und ein solches Management war von Anfang an von zentraler Bedeutung für Putins Regierungsstil."

"Buchstäblich für alle von Vorteil"

Der besseren Übersichtlichkeit halber teilte Politologe Michail Winogradow die Stimmen zum Tod von Prigoschin in vier Kategorien ein: "Negativisten" behaupteten, Putin habe abermals sein wahres Gesicht gezeigt, jetzt gehe es mit ihm zu Ende. "Kriminologen" widmeten sich den genauen Umständen des Flugzeugabsturzes. "Verschwörungstheoretiker" verbreiteten die Mär, Prigoschin sei noch am leben und alles sei eine Inszenierung. "Skeptiker" gingen davon aus, dass der Vorfall an sich völlig unbedeutend sei.

Die Kreml-Expertin Maria Sergejewa, die acht Jahre für Putin tätig war, analysierte: "Überraschenderweise ist die Situation selbst mittlerweile für buchstäblich alle von Vorteil. Außer natürlich für die Toten und ihre Angehörigen. Für die Russen, weil ihnen die stärkste Legende von einem Helden serviert wird, bevor der Held sie selbst völlig zerstört. Für die Behörden, denn das Beste, was der unkontrollierbare, zweimal verrückt gewordene Held Russlands tun konnte, bis er noch mehr Schaden anrichten konnte, ist zu verschwinden, zu verdampfen und heldenhaft zu sterben. Für die Ukraine und den kollektiven Westen ist sowieso alles klar: Der Tod eines langjährigen illustren Feindes, wenn auch vom Geschäft suspendiert, ist ein symbolischer Sieg vor dem Hintergrund des Scheiterns der angekündigten Gegenoffensive [der Ukraine] und neuer Ausrichtungen im großen afrikanischen Spiel."

"Prigoschin gehört zur Kulturgeschichte"

Prigoschins Kopf sei von einem "schrecklichen Durcheinander" gekennzeichnet gewesen, so Politologe Alexej Tschadajew. Er habe einen "absolut unerträglichen Charakter" besessen, gleichwohl sei er ein "aufrichtiger Mensch und echter Held" gewesen: "Für mich besteht kein Zweifel daran, dass Prigoschin nicht zur politischen oder militärischen Geschichte gehört, sondern zu einer viel tieferen und bedeutenderen, volksmythologischen Kulturgeschichte."

Die mutmaßliche Ausschaltung des Ultranationalisten Prigoschin erleichtere Russland den Weg zu einem geräuschlosen Kompromissfrieden, argumentiert Politologe Ilja Graschenkow, ähnlich wie der oben erwähnte Berufskollege Pastukow: "Die Marginalisierung der [rechts-]radikalen Tagesordnung, ihr Rückzug aus der offiziellen Informationssphäre, kann zum inneren Frieden beitragen, zumal das Land mittlerweile wichtigere interne Probleme hat, die nicht mit der äußeren Erweiterung zusammenhängen. Ein Friedensabschluss wird zum Gegenstand einer realen Debatte und der Kampf um seine genaueren Konturen wird auch zu einem wichtigen Aspekt bei der Übertragung der Macht."

"Agenten des Schicksals"

"Wer auch immer nach den offiziellen Ermittlungsergebnissen zum Täter erklärt wird, nichts wird die bereits offensichtliche Gewissheit der russischen Gesellschaft erschüttern, die weiß, wer Prigoschin getötet hat und warum", so ein Blog. Publizist Arkadi Dubnow glaubt sogar, die Russen würden fortan mit dem Finger auf Putin zeigen und ihn als "Mörder" brandmarken. Dass der Kreml mal wieder stundenlang schwieg und das Staatsfernsehen das Thema weitgehend ignorierte, brachte Propagandisten schier zur Verzweiflung. Politologe Sergej Markow wollte gar eine "Macht-Lethargie" erkennen und zeterte: "Schlagen sie vor, dass wir der westlichen Version glauben? Die westliche Version der Ermordung Prigoschins trifft direkt den Präsidenten Russlands. Wir wollen ihr nicht glauben." Der Westen verunglimpfe Putin als "wahnsinnigen" Rächer, und diese Sichtweise dominiere leider international.

Wie sehr die staatlich gesteuerten Medien im Dunkeln tappen, ist einem Leitartikel in der auflagenstarken "Moskowski Komsomolez" zu entnehmen. Dort schreibt Chefkolumnist Michail Rostowski: "Die Schuldigen an Prigoschins Tod sind natürlich ganz bestimmte Menschen, deren Namen wir vielleicht eines Tages kennen, vielleicht aber auch nie erfahren werden. Aber gleichzeitig sind diese 'konkreten Menschen' nur Agenten des Schicksals, der Logik der Entwicklung weltpolitischer Prozesse verpflichtet. Entschuldigung für das Pathos, aber hier scheint es mir sehr schwierig zu sein, darauf zu verzichten." Prigoschin habe seinem "Schicksal nicht entrinnen" können, was in der Wortwahl an eine antike Tragödie erinnert.

"Um Helden wird alles zur Tragödie"

Tatsächlich lässt Rostowski kaum einen Zweifel daran, dass seiner Meinung nach Putin persönlich den Söldnerführer beseitigen ließ: "Der Kompromiss, mit dem der Juni-Putsch Jewgeni Prigoschins endete, rettete das Land vor dem schrecklichsten, ungeheuerlichsten und blutigsten Szenario. Dennoch brachte der versuchte Aufstand das Regierungssystem des Landes immer noch aus dem Gleichgewicht." Die russische Machtpyramide beruhe auf der "umfassenden Autorität" der Person an der Spitze, so der Journalist, und die sei jetzt wiederherstellt. Die "Risse" im System seien beseitigt.

Auf das "Pathos", das Rostowski für unverzichtbar hält, wollen überhaupt wenige verzichten, wenn es um die Würdigung der jüngsten Ereignisse geht. Die Blogs, die der Söldnerarmee Wagner nahestehen, versorgten ihre Fans mit Richard Wagners "Walkürenritt", um das Heldentum der Verblichenen angemessen zu unterstreichen. Andere zitierten Friedrich Nietzsches berühmte Streitschrift "Jenseits von Gut und Böse", wo es heißt: "Um den Helden herum wird alles zur Tragödie." Manchmal allerdings könne auch alles um den "Antihelden" tragisch enden, spottete ein offenbar gebildeter Blogger und fügte an: "Das geschieht dann, wenn ein Land meint, weder Helden, noch Antihelden nötig zu haben. Es werden dann nur noch Darsteller in grauen Anzügen gebraucht. Die Zukunft eines solchen Landes hat ein aschfahles Gesicht."

Vergleich mit Wallenstein und Röhm

Nicht von ungefähr verglichen belesene Russen Prigoschins ungeklärtes Ableben mit dem Schicksal Albrechts von Wallenstein, des berühmten Feldherrn des Dreißigjährigen Kriegs, der auf Geheimbefehl von Kaiser Ferdinand II. exekutiert wurde, weil er zu eigenmächtig geworden war. Es wurden auch Parallelen zum "Röhm-Putsch" gezogen, bei dem Hitler Anfang Juli 1934 seinen gefährlichsten innerparteilichen Konkurrenten Ernst Röhm ausschaltete. Ebenso beliebt ist der Vergleich mit dem Renaissance-Haudegen Ramiro de Lorca, der vom berüchtigten Papst-Sohn Cesare Borgia wegen angeblicher "Verschwörung" beseitigt wurde.

Spekulationen über Bestattung

Skurril dürfte auf jeden Fall die Beerdigung Prigoschins werden: Angeblich will der Kreml einerseits ein repräsentatives "Staatsbegräbnis", andererseits soll es nicht der Selbstdarstellung der Ultrapatrioten dienen. Schon wird darüber diskutiert, dass Putin offiziell eine hoch zeremonielle Bestattung anbieten könnte, woraufhin die Familie "dankend ablehnt" und eine einfache Grabstätte wählt. Jedenfalls dürfte nichts dem Zufall überlassen bleiben. Das gilt auch für "Ermittlungen" der Unfallursache. Als ein möglicher "Täter" wurde schon Prigoschins Privatpilot genannt, der sich kürzlich bei einem Ausflug im fernöstlichen Kamtschatka auf Nimmerwiedersehen "verirrt" habe. Angeblich gab es an der abgestürzten Maschine kurzfristig eine seltsame "Reparatur", über die sich auch die Stewardess wunderte. Der Fall wird wohl auf groteske Weise "unterhaltsam" bleiben.

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