Der neue Bundestag tritt an diesem Dienstag erstmals zusammen. Mit 735 Abgeordnete umfasst er so viele Parlamentarier wie nie – das liegt am komplexen Wahlverfahren und seinen Ausgleichsmandaten. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten in dieser Legislatur liegt bei 47,3 Jahren, der Frauenanteil im Bundestag verbessert sich nur minimal auf knapp 35 Prozent. Bei den beruflichen Hintergründen gibt es eine gewisse Konzentration: 532 von 735 Abgeordneten sind laut der Webseite des Bundestags dem Bereich "Unternehmensorganisation, Recht, Verwaltung" zuzuordnen.
Mit einer anderen wichtigen Frage im Hinblick auf die Zusammensetzung des Parlaments beschäftigt sich Julia Schulte-Cloos. Die Politologin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München untersucht, wie hoch der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist – bei den gewählten Abgeordneten sowie bei allen Kandidatinnen und Kandidaten. Im BR24-Interview spricht sie über ihre Ergebnisse, bundesweit und mit Blick auf Bayern.
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BR24: Frau Schulte-Cloos, an diesem Dienstag tritt der neue Bundestag erstmals zusammen. Wie hoch ist der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund?
Schulte-Cloos: Insgesamt sind es laut meiner Analyse 69 Abgeordnete. Bei einer Gesamtzahl von 735 Abgeordneten macht das einen Anteil von 9,3 Prozent. Nachdem in der ganzen Bevölkerung gut jeder vierte Mensch einen Migrationshintergrund hat, lässt sich also festhalten: Auch im neuen Bundestag bildet sich das so nicht ab.
Wie unterscheiden sich die einzelnen Fraktionen?
Im politisch eher linken oder linken Spektrum ist der Anteil von Abgeordneten mit Migrationshintergrund deutlich höher als bei den anderen Fraktionen. Den höchsten Anteil gibt es bei den Linken mit 20 Prozent. Es folgen die SPD mit 14 Prozent und die Grünen mit knapp 13 Prozent. Bei den anderen Fraktionen ist der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund nochmal deutlich geringer: Bei der FDP sind es 6,5 Prozent, bei der Union rund 4 Prozent, bei der AfD 3,5 Prozent.
Gilt diese Aufteilung auch in etwa für die 116 Bundestagsabgeordneten aus Bayern?
Insgesamt ist der Anteil in Bayern etwas niedriger, außer bei der Linkspartei. Aus Bayern kommen laut meiner Auswertung vier Bundestagsabgeordnete mit Migrationshintergrund – aufgeteilt auf Grüne, Linke und FDP. Bei der CSU sind es null. Das gleiche gilt für die bayerische SPD. Heißt im Ergebnis: Nur 4 von 116 bayerischen Abgeordneten im neuen Bundestag haben einen Migrationshintergrund.
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In den Medien kursierten zuletzt leicht abweichende Zahlen, jeweils einige Prozentpunkte mehr oder weniger. Für die neue Linken-Fraktion im Bundestag war zum Beispiel von gut 28 Prozent die Rede – laut Ihnen sind es 20 Prozent. Woran liegt das?
Die Zahlen, auf die ich bei meiner Auswertung komme, sind nicht immer deckungsgleich mit dem Mediendienst Integration, auf den Sie anspielen und der oft medial zitiert wird. Das liegt daran, wie man "Migrationshintergrund" definiert. Bei den Zahlen des Mediendiensts reicht ein ausländisches Elternteil – da wird auch der CDU-Abgeordnete Christian Alexander Freiherr von Stetten wohl wegen seiner Schweizer Mutter als Abgeordneter mit Migrationshintergrund gezählt.
"Klar ist: Der Nachname ist sichtbar"
Dessen Migrationshintergrund dürfte aber den wenigsten Wählern bewusst sein.
Richtig. Ich habe deshalb einen etwas anderen Ansatz gewählt. Das umfasst in meiner Herangehensweise Menschen, die einen nicht klassisch "deutsch" klingenden Nachnamen haben. Zunächst lasse ich dazu eine künstliche Intelligenz alle Namen analysieren. Diese Ergebnisse werden dann von einem Forscherteam überprüft und validiert. Diese Vorgehensweise kann man sicher auch kritisieren, aber klar ist: Der Nachname ist sichtbar, auf Plakaten, in der Berichterstattung, auf dem Wahlzettel.
Migrationshintergrund ist also ein sehr weiter Begriff. Inwiefern haben sie das bei ihrer Analyse regional aufgeschlüsselt?
Ich habe in erster Linie unterschieden zwischen europäischem und nicht-europäischem Migrationshintergrund. Ergebnis für den neuen Bundestag: Der Anteil der Abgeordneten mit nicht-europäischem Migrationshintergrund ist nochmal deutlich geringer als der allgemeine. Da hat beispielsweise die AfD keinen einzigen Abgeordneten, bei der Union ist es eine Abgeordnete. Bei der Linken sind es fünf, bei der FDP zwei. Bei den Grünen sind es zehn Abgeordnete mit nichteuropäischem Hintergrund, bei der SPD 17. Die Türkei zum Beispiel zählt dabei als nichteuropäischer Migrationshintergrund.
Gäbe es mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund, wenn die Parteien ihre entsprechenden Kandidaten auf bessere Listenplätze wählen oder in mehr Wahlkreisen direkt aufstellen würden?
Ich habe alle Kandidatinnen und Kandidaten für diese Bundestagswahl analysiert – wie erwähnt mit dem Nachnamen als zentralem Kriterium. Erste Erkenntnis: Die jeweilige Quote bei den Kandidatinnen und Kandidaten unterscheidet sich kaum vom letztlichen Anteil im Bundestag. Zweite Erkenntnis: Die Zahl der Bundestagskandidaten mit Migrationshintergrund bildet zwar noch nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse ab, steigt aber seit 2005 stetig.
Das heißt konkret?
Bei der Bundestagswahl 2005 hatten nur 4,4 Prozent der Kandidatinnen und Kandidaten einen Migrationshintergrund. Bei der jüngsten Bundestagswahl 2021 waren es rund 9 Prozent. Auch hier gilt aber: Dieser Trend hängt ganz überwiegend mit SPD, Grünen und Linkspartei zusammen – wird also nicht von allen Parteien gleichermaßen getragen. Übrigens: Auch unter denen, die dann wirklich ins Parlament gewählt werden, sind seit 2005 immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund.
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Dr. Julia Schulte-Cloos ist Marie Skłodowska-Curie Fellow am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich politisches Verhalten und politische Soziologie.
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