Archivbild (2018): Genua, Blick auf dieeingestürzte Autobahnbrücke Morandi.
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Brückeneinsturz von Genua: Prozess hat begonnen

Brückeneinsturz von Genua: Prozess hat begonnen

Vier Jahre ist es her, dass der Einsturz der Morandi-Brücke in Genua 43 Menschen das Leben kostete. Heute hat der Prozess gegen 59 mutmaßliche Verantwortliche begonnen. Die Hinterbliebenen der Opfer glauben aber nicht an eine schnelle Verurteilung.

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Die Bilder vom Einsturz einer Autobahnbrücke in Genua vor knapp vier Jahren schockierten die Welt. 43 Menschen starben, als während starker Regenfälle die Fahrbahn brach und Autos und Lastwagen in die Tiefe stürzten. Nun hat der Prozess gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen begonnen. Vor Gericht müssen sich 59 Angeklagte verantworten, darunter hochrangige Vertreter des Autobahnbetreibers Autostrade per l'Italia (Aspi) und des Bauunternehmens Spea sowie Beamte des Infrastrukturministeriums.

Brücke war "eine Bombe mit Zeitzünder"

Den Angeklagten wird unter anderem fahrlässige Tötung, Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit und Rechnungsfälschung zur Last gelegt. Das Verfahren soll voraussichtlich zwei bis drei Jahre dauern. Opferanwalt Raffaele Caruso sagte der Nachrichtenagentur AFP, es handele sich angesichts des Ausmaßes des damaligen Unglücks und der Zahl der Beschuldigten um "einen der wichtigsten Prozesse in der jüngeren Geschichte Italiens".

Es geht unter anderem um die Frage, ob die Brücke ausreichend gewartet und ihr Zustand ausreichend kontrolliert wurde. "Die Morandi-Brücke war eine Bombe mit Zeitzünder", hob Staatsanwalt Walter Cotugno hervor. "Man konnte das Ticken hören, aber man wusste nicht, wann sie explodieren wird."

Es gebe keinen Zweifel, dass die Führungen des Autobahnbetreibers und des Bauunternehmens sich dieses Risikos bewusst gewesen seien, sagte Cotugno. Sie hätten sich aber gegen notwendige Arbeiten an der Brücke gesträubt, um den Aktionären "die Dividenden zu sichern".

Die Unternehmen selbst sind einem Prozess durch eine außergerichtliche Einigung entgangen, wonach sie dem Staat wegen des Unglücks 29 Millionen Euro zahlen müssen. Mehr als 60 Millionen Euro zahlte der Autobahnbetreiber an die Familien der Opfer aus, nur zwei Opferfamilien akzeptierten diese Vereinbarung nicht.

Trauer von Hinterbliebenen

"Die Trauer ist noch heute unendlich groß", sagt Egle Possetti. Die 57-Jährige verlor bei der Katastrophe am 14. August 2018 ihre Schwester Claudia, ihren Schwager Andrea, ihren Neffen Manuele und ihre Nichte Camilla. "Meine Schwester war so glücklich, sie hatte Andrea wenige Tage vor dem Unglück geheiratet, sie waren gerade von ihrer Hochzeitsreise in die USA zurückgekehrt", erzählt die Vorsitzende eines Komitees der Hinterbliebenen.

"Die schrillen Schreie der Menschen, die Leichen und die völlig plattgedrückten Autos werden mir für immer im Gedächtnis bleiben", erinnert sich Federico Romeo, der Bürgermeister des nördlichen Stadtteils von Genua, an den Tag der Katastrophe. Diese offenbarte in ungeahnter Brutalität den desolaten Zustand der Verkehrsinfrastruktur in Italien.

Ehemaliger Chef der Atlantia-Gruppe unter den Angeklagten

Das Unternehmen Autostrade per l'Italia (Aspi), das fast die Hälfte des italienischen Autobahnnetzes betreibt, wird beschuldigt, die Morandi-Brücke nicht instand gehalten zu haben. Aspi gehörte damals zur Atlantia-Gruppe der Familie Benetton. Die Familie verkaufte inzwischen ihren Anteil für acht Milliarden Euro an den Staat. Der ehemalige Chef von Atlantia, Giovanni Castellucci, ist einer der 59 Angeklagten.

Die Hinterbliebene Possetti rechnet nicht mit einer schnellen Verurteilung. "In Italien sind Prozesse langwierig und gehen leider für die Opfer oft nicht gut aus", sagt sie. "Wir haben uns vom ersten Tag an im Stich gelassen gefühlt, monatelang haben wir von niemandem etwas gehört."

Park soll in Zukunft an Opfer erinnern

Ganz in der Nähe von Brückenpfeiler Nummer neun, der bei dem Unglück einstürzte, spielen jetzt Kinder Fußball. Bald soll hier ein Park zum Gedenken an die Opfer angelegt werden. Im August 2020 wurde die neue Brücke eingeweiht. Der Fluss, über den sie führt, ist derzeit ausgetrocknet.

Im Stadtteil Certosa nahe der Brücke hängen an vielen Häusern Schilder mit der Aufschrift "Zu verkaufen". Über ein Jahr lang war das Viertel vom Rest der Stadt abgeschnitten, weil die Straßen wegen des Wiederaufbaus der Brücke gesperrt waren. "Die alteingesessenen Geschäfte haben fast alle geschlossen", sagt Massimiliano Braibanti, Leiter einer lokalen Nachbarschaftsinitiative. Auch die Immobilienpreise seien gesunken. Eine 100-Quadratmeter-Wohnung sei für weniger als 20.000 Euro zu haben, sagt Braibanti.

Vorwurf, dass Brücke wegen des Profits nicht gewartet wurde

Der Prozess ist allen Italienern wichtig, Hinterbliebenen wie Giorgio Robbiano besonders: "Ich habe das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und möchte wissen, wer für den Tod meines Bruders, meines Neffen, meiner Schwägerin und so vieler anderer verantwortlich ist", sagt der 45-Jährige. "Ich will, dass sie sich für ihre Taten verantworten müssen." Robbianos jüngerer Bruder war mit seiner Frau Ersilia und dem achtjährigen Sohn Samuele auf dem Weg zum Haus des Vaters, um dort Geburtstag zu feiern, als sie in die Tiefe stürzten.

"Sie sind wegen einer Brücke gestorben, die nie gewartet wurde, um mehr Profit zu machen", sagt Robbiano. Sein Vater sei im vergangenen Jahr gestorben. "Er ist nie über den Schmerz hinweggekommen", sagt Robbiano. "Und leider wird er nie die Gelegenheit haben, dem Menschen, der seinen Sohn und seinen Enkel getötet hat, in die Augen zu sehen."

Wartungsarbeiten während Unglückszeitpunkt

Die fast 1.200 Meter lange Autobahnbrücke war am 14. August 2018 während heftiger Regenfälle auf einer Länge von über 200 Metern eingestürzt und hatte dutzende Fahrzeuge mit in die Tiefe gerissen. Die Bilder des Einsturzes gingen um die Welt. Das Unglück warf auch ein Schlaglicht auf den maroden Zustand von Italiens Verkehrsinfrastruktur.

Die Brücke überspannte dutzende Bahngleise sowie ein Gewerbegebiet mit Gebäuden und Fabriken. Zum Unglückszeitpunkt liefen Wartungsarbeiten an dem Bauwerk. Die Ingenieurswebsite "ingegneri.info" nannte das Unglück kurz danach eine "vorhersehbare Tragödie". Es habe immer schon "strukturelle Zweifel" am Bau des Ingenieurs Riccardo Morandi gegeben, nach dessen Pläne die Brücke von 1963 bis 1967 gebaut wurde. Schon 2009 war über einen Abriss nachgedacht worden, die Brücke war aber zu wichtig für den Autoverkehr.

Das Bauwerk gehörte zur sogenannten Blumenautobahn A10, einer auch von zahlreichen Touristen genutzten wichtigen Verkehrsachse an der italienischen Riviera, die Genua mit Ventimiglia an der französischen Grenze verbindet. Jedes Jahr fuhren 25 Millionen Autos über die Morandi-Brücke.

Material von AFP

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