Das Oberste Gericht Brasiliens hat einem Antrag zugestimmt, den früheren Präsidenten Jair Bolsonaro zum Gegenstand der Ermittlungen zu den kürzlichen Unruhen in der Hauptstadt Brasília zu machen. Der Oberste Richter Alexandre de Moraes gab am Freitagabend (Ortszeit) einem entsprechenden Antrag der brasilianischen Generalstaatsanwaltschaft statt.
Bolsonaro soll Fake News Video bei Facebook veröffentlicht haben
Mit Blick auf die Ermittlungen zur Frage, wer die Unruhen in Brasilien anfachte, beriefen sich die Staatsanwälte einer jüngst formierten Gruppe zur Bekämpfung antidemokratischer Taten einer Mitteilung zufolge auf ein Video, das Bolsonaro zwei Tage danach bei Facebook veröffentlichte. In dem Video wurde attestiert, Bolsonaros Nachfolger Luiz Inácio Lula da Silva sei nicht ins Amt gewählt, sondern vom Obersten Gericht und der Wahlbehörde ausgewählt worden. Die Ermittler werfen dem Ex-Präsidenten vor, er habe mit der Infragestellung der Wahl öffentlich zu einer Straftat aufgerufen.
Ex-Präsident hat Wahlniederlage bislang nicht eingestanden
Bolsonaro hat es ansonsten weitgehend vermieden, sich seit seiner Niederlage bei der Stichwahl ums Präsidentenamt am 30. Oktober zur Wahl zu äußern. Seine Niederlage hat er aber zu keinem Zeitpunkt eingestanden und zuvor wiederholt Zweifel an der Zuverlässigkeit des elektronischen Wahlsystems des Landes geweckt sowie gerichtlich beantragt, Millionen von an Wahlautomaten abgegebenen Stimmen für ungültig zu erklären - was abgelehnt wurde.
Die Staatsanwälte argumentierten, auch wenn Bolsonaro das Video nach den Ausschreitungen veröffentlicht habe, rechtfertige dessen Inhalt, sein Verhalten auch im Vorfeld zu untersuchen. Bolsonaro löschte das Video am Morgen nach dessen Veröffentlichung wieder.
Nach Ansicht des Richters Alexandre de Moraes waren in sozialen Netzwerken falsche Aussagen wiederholt worden. Unter anderem sei demokratischen Institutionen ihre Legitimität abgesprochen worden. Dadurch seien Bolsonaro-Anhänger anstiftet worden, Repräsentanten dieser Institutionen anzugreifen und "schwerste Verbrechen gegen die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit" zu begehen
Auch Ex-Justizminister Torres gerät ins Kreuzfeuer
Ein Großteil der Aufmerksamkeit richtet sich inzwischen auf Bolsonaros ehemaligen Justizminister Anderson Torres, der am 2. Januar in sein früheres Amt als Sicherheitschef des Hauptstadtbezirks zurückgekehrt war, in Folge der Ereignisse von Gouverneur Ibaneis Rocha aus diesem Amt wieder entlassen wurde und sich am Tag der Unruhen in den USA befand. Richter de Moraes ordnete jüngst seine Festnahme an und hat Ermittlungen gegen ihn eingeleitet.
Offenbar Dokument gefunden, um Wahlergebnisse zu "korrigieren"
Am Donnerstag hatte die Zeitung "Folha de S. Paulo" berichtet, dass im Haus des Bolsonaro-Vertrauten ein Dokument gefunden worden sei mit Plänen für die "Korrektur" des Wahlergebnisses, die allerdings nicht in die Tat umgesetzt wurden.
Der dreiseitige Entwurf sieht demnach vor, dass Bolsonaros Regierung die Kontrolle über das Oberste Wahlgericht übernimmt - anscheinend um dann Lulas Wahlsieg zu annullieren. Ein solches Vorgehen wird von zahlreichen Juristen des Landes als verfassungswidrig eingestuft. Am Ende des undatierten Dokuments steht Bolsonaros Name mit Platz für seine Unterschrift. Torres kritisierte, die Zitate aus dem Dokument seien aus dem Zusammenhang gerissen worden.
Torres habe Untergebene entlassen und das Land vor den Krawallen verlassen, was ein Indiz sei, dass er absichtlich den Grundstein für die Vorfälle gelegt habe, sagte Richter de Moares. Er müsse binnen drei Tagen zurückkehren oder Brasilien werde einen Auslieferungsantrag stellen, sagte der neue Justizminister Flávio Dino am Freitag. Torres hat jedes Fehlverhalten bestritten. Bereits am Dienstag schrieb er bei Twitter, er werde seinen Urlaub unterbrechen und nach Brasilien zurückkehren, um sich den Vorwürfen zu stellen. Bis Freitag war dies nicht geschehen.
Bolsonaro in den USA
Auch Bolsonaro hält er sich derzeit in den USA auf - in einem Vorort von Orlando, Florida. Jüngst forderten deshalb 46 Abgeordnete der US-Demokraten in einem Schreiben an Präsident Joe Biden, dem Rechtspopulisten das Visum zu entziehen, der am 30. Dezember unmittelbar vor dem Ende seiner Amtszeit als Staatsoberhaupt Brasiliens einreiste.
Vergangenen Sonntag waren hunderte Bolsonaro-Anhänger in der Hauptstadt Brasilia in das Kongressgebäude, den Präsidentenpalast und den Sitz des Obersten Gerichts eingedrungen und hatten dort stundenlang schwere Verwüstungen angerichtet. Dabei entlud sich ihr Zorn über den Wahlsieg des Linkspolitikers Luiz Inácio Lula da Silva, der sich in einer Stichwahl knapp gegen Bolsonaro durchgesetzt hatte und seit Jahresbeginn im Amt ist.
Angesichts der Furcht vor erneuten Aktionen radikaler Bolsonaro-Anhänger waren die Sicherheitsmaßnahmen in der brasilianischen Hauptstadt am Mittwoch verschärft worden, nachdem der Aufruf zu einer "Mega-Demonstration zur Wiedererlangung der Macht" in allen Landeshauptstädten Brasiliens kursiert war.
Fragliche Rolle der Behörden?
Fraglich ist auch, wie die Behörden Hinweise auf eine Verschwörung übersehen haben können, die ähnlich wie der Sturm auf das US-Kapitol vor zwei Jahren wohl recht offen organisiert und ausgeführt wurde. Beide Fälle machten deutlich, wie sehr die sozialen Medien es antidemokratischen Gruppen erleichtern, Follower zu rekrutieren und Online-Rhetorik in reale Aktionen umzuwandeln.
Auf der Videoplattform Youtube erzielten Randalierer mit Livestreams Hunderttausende Views, bevor ein brasilianischer Richter Social-Media-Netzwerke zur Löschung derartiger Inhalte aufforderte. Irreführende Behauptungen über die Wahl und den Aufstand waren auch auf Twitter, Facebook und anderen Plattformen zu finden.
Doch schon vor den Ausschreitungen vom 8. Januar wurden soziale Medien und private Messengerdienste von Aufrufen zu einer finalen Offensive geflutet, die Wahl von Luiz Inácio Lula da Silva im Oktober aufzuheben. Die Behörden verpassten diese entweder aus unerfindlichen Gründen oder ignorierten sie. Bruno Fonseca, Investigativjournalist bei dem Portal Agência Pública, vermutet als Gründe entweder Fahrlässigkeit oder die tiefsitzende Unterstützung vieler Sicherheitskräfte für Bolsonaro.
Umstrittene Ausgaben
Für Empörung sorgen derweil auch Bolsonaros Ausgaben mit der offiziellen Präsidenten-Kreditkarte, die von Lulas Regierung veröffentlicht wurden. Demnach wurden beispielsweise rund 217.000 Euro während der offiziellen Weihnachtsurlaube Bolsonaros in den Jahren 2019, 2020 und 2021 ausgegeben. Von einem bescheidenen Restaurant in Boa Vista im nördlichen Amazonasstaat Roraima, in dem das teuerste Gericht neun Euro kostet, wurden auf einen Schlag umgerechnet rund 20.000 Euro abgebucht.
Bolsonaro hatte sich während seiner Amtszeit mehrfach damit gebrüstet, im Gegensatz zu seinen Vorgängern "keinen einzigen Cent" mit der Kreditkarte des Präsidenten ausgegeben zu haben.
Mit Informationen von AP, AFP und dpa
Video: Ausschreitungen am vergangenen Sonntag
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