Kerstin ist 21 und vor fünf Monaten Mutter geworden. Seit Max auf der Welt ist, steht ihr Leben kopf. Kerstin, die wie ihr Sohn eigentlich anders heißt, fühlte sich allein mit vielen Fragen. Da kam das Angebot der Frühen Hilfen gelegen.
"Ich hatte zwar eine Hebamme, aber die war auf einem älteren Stand und konnte mir nicht helfen", erzählt die junge Mutter. "Ich bin schnell abgewürgt worden, sie sagte immer 'das wird schon'. Das war mir zu wenig, es ist ja mein erstes Kind. Dann habe ich eine Mail ans Jugendamt geschrieben und dann ging es ganz flott. Zwei Wochen später war Kinderkrankenschwester Christiane da."
Frühe Hilfen lassen frischgebackene Eltern nicht alleine
Das Ziel der Frühen Hilfen: Frischgebackene Mütter und Väter mit Kindern von null bis drei Jahren nicht alleine zu lassen, besonders dann nicht, wenn die Situation sie überfordert. Damit wollen die Frühen Hilfen verhindern, dass Risiken für das Kindeswohl entstehen. Gefährdungen des Kindeswohls können sich in Vernachlässigungen, in sexualisierter Gewalt und körperlichen oder psychischen Misshandlungen äußern.
Ein Fünftel der Kinder in Armut nicht altersgerecht entwickelt
Eine Studie des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen bestätigt, dass es den meisten Familien mit kleinen Kindern in Deutschland gut geht. Der Gesundheitszustand von 78 Prozent der Kinder ist aus ärztlicher Sicht "sehr gut". Allerdings zeigen sich große Belastungen bei Familien in Armut. Besonders häufig sind das gemäß der Studie Alleinerziehende sowie Familien mit niedriger Bildung.
Bei Kindern aus armen Familien ist der Gesundheitszustand seltener "sehr gut" (64 Prozent). 21 Prozent der Kinder aus armutsbetroffenen Familien sind nicht altersgerecht entwickelt. Die Corona-Pandemie habe die Ungleichheiten weiter vertieft, so die Studie.
Kinder mit psychisch belastetem Elternteil im Nachteil
Auch Kinder, die in einem Familienumfeld mit psychisch belastetem Elternteil aufwachsen, werden von Kinderärzten häufiger als nicht altersgerecht entwickelt eingeschätzt (20 Prozent gegenüber 14 Prozent aus Familien, die psychisch nicht belastet sind).
Entstanden sind die Frühen Hilfen 2006, als eine Studie darauf hinwies, dass in Deutschland wöchentlich zwei Kinder an den Folgen von Gewalt und Misshandlungen sterben. Die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) richtete das "Zentrum des Bundes für frühe Hilfen" ein. Es sollte gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und dem Deutschen Jugendinstitut Frühwarnsysteme aufbauen.
Und das System scheint zu wirken. Langfristig gehen die Zahlen der gewaltsamen Todesfälle von Kindern nach Angaben des Bundeskriminalamtes zurück. Auch wenn es in der Pandemiezeit einen Ausreißer nach oben gab.
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Viele kennen die Frühen Hilfen nicht
An gefährdete Familien heranzukommen, ist nicht immer leicht, sagt Mechthild Paul, die das Nationale Zentrum für Frühe Hilfen (NZFH) in Köln leitet.
"Nehme ich Hilfe an oder nicht? Es ist ein Stigma und mit ganz vielen Ressentiments verbunden, sich jemandem anzuvertrauen." Mechthild Paul, Leitung NZFH
Vertrauen in die Einrichtung ist das eine. Denn einige Eltern befürchten, dass das Jugendamt durch die Frühen Hilfen erst auf sie aufmerksam wird. Das andere ist: Vielen sind die Frühen Hilfen einfach nicht bekannt. Nur ein Drittel von etwa 1.700 Eltern, die auf der Instagram-Plattform "Eltern ohne Filter" an einer Umfrage teilgenommen haben, kennen das Angebot.
Was die Frühen Hilfen tun: Beratung, Vermittlung, Entlastung
Und was können die Frühen Hilfen konkret tun? Oft geht es um Beratungsthemen, wie bei Kerstin: Stillprobleme, Schlafsituation, Geschwistereifersucht, Beziehungskrise oder einfach mal mit jemandem über dieses wahnsinnige Elternleben reden. Bei einigen Familien ermöglichen die Frühen Hilfen eine konkrete Entlastung: In Form einer ehrenamtlichen Familienpatin, die zum Beispiel vier Stunden die Woche auf die Neugeborenen aufpasst.
Sozialpädagogen vermitteln Frühe Hilfen auch häufig in Familien, die neu in Deutschland sind und ein hierzulande nicht mehr zeitgemäßes Verständnis von Erziehung haben. Manche Eltern haben durch die Frühen Hilfen Anschluss an ein Eltern-Café gefunden oder sind in eine Schreiambulanz vermittelt worden.
Hilfe auch für Familien mit Frühchen
Marion hat psychologische Unterstützung erhalten: Sie hatte einen schwierigen Start mit ihrem zweitgeborenen Sohn. Er kam zwei Monate zu früh per Notkaiserschnitt auf die Welt und musste auf die Intensivstation. Noch dazu zog die Familie zur gleichen Zeit in ein neues Haus auf dem Land um und die große Schwester, ein gefühlstarkes Kind, reagierte auf ihren Bruder aggressiv. Alles sehr chaotisch und hochdramatisch, erzählt Marion.
Über die Frühen Hilfen meldete sich eine Psychologin bei ihr. "Wir haben alle zwei Wochen telefoniert, weil es für mich nicht so easy war, mit beiden Kindern aus dem Haus zu gehen. Sie war supernett, sie hat sich mein Leid angehört und mir Tipps gegeben, was ich im Alltag machen kann", erinnert sich Marion. Es sei wie psychologische Unterstützung gewesen, "einfach eine kleine Mini-Therapie."
Negative Erfahrungen: Unnötige Tipps oder kein Zugang zu Hilfe
Negative Erfahrungen hat hingegen Sophie erlebt: Als in einer schwierigen Phase nach der Geburt des dritten Kindes mit Geschwister-Eifersucht und einer Paarkrise eine Sozialpädagogin zu ihr kam. "Ihre Ratschläge hätte ich mir auch bei brigitte.de holen können. Sie hat mir nichts gesagt, was ich nicht schon wusste. Im Endeffekt war's nach ein paar Wochen so, dass ich immer dachte, oh Gott, jetzt kommt sie wieder. Jetzt darf ich ihr wieder Kaffee machen und mir ihre Storys über ihre Söhne anhören", erzählt sie.
Und nicht immer werden die für die Familien kostenlosen Angebote der Frühen Hilfen vom Jugendamt genehmigt. Auch, wenn einer der Leitsätze besagt, dass der Zugang niedrigschwellig sein soll.
Bei Martina, Mutter von drei Kindern, hat es nicht geklappt. "Wir hätten sehr gerne mal Hilfe in Anspruch genommen. Weil als unser drittes Kind geboren wurde, waren die großen zwei erst zwei und drei Jahre alt und ich mitten in einer Wochenbettdepression. Aber leider war die Aussage vom Jugendamt: Solange keine Gefahr auf die Kinder ausgeht und ich sie versorgen kann mit Nahrung, Kleidung usw. wird es für mich keine Hilfe geben, was uns sehr enttäuscht hat", schildert die dreifache Mutter.
Beratungsstelle Koki als Ansprechpartner
Auch Stephanie hatte mit ihrer ersten Tochter einen schweren Start: Komplizierte Schwangerschaft und Geburt, Schreibaby, viele Tränen. Ihr Mann begann zu recherchieren und stieß auf Koki, kurz für Koordinierende Kinderschutzstelle, wie viele Beratungsstellen der Frühen Hilfen in Bayern heißen. Sie schickte eine Familienhebamme.
"Sie war der totale Engel", sagt Stephanie. "Sie kam in der Anfangszeit fast jeden Tag, verbrachte mehrere Stunden bei uns: Sie half im Haushalt und nahm uns das Baby mal ab, führte Tipps und Routinen ein. Sie vermittelte mich an eine Psychiaterin, dadurch wurde eine Wochenbettdepression diagnostiziert. Und darüber war ich eigentlich ganz froh, weil ich das Gefühl in mir benennen konnte. Sie hat uns bis zum ersten Geburtstag begleitet und sich dann langsam verabschiedet und uns in die Selbstständigkeit entlassen. Unterm Strich würde ich sagen: Diese Frau hat mein Leben und meine Partnerschaft gerettet. Ich finde es unglaublich, dass es so eine Einrichtung umsonst gibt. Alle Betroffenen sollen keine Hemmnisse haben, sich Hilfe zu holen."
Jedes Kind ist anders und jede Elternsituation auch. Ob erstes Kind oder viertes, ob Schreikind oder Anfängerbaby, ob arm, ob reich, ob Stadt, ob Land – einen gesunden und entwicklungsförderlichen Start ins Leben haben alle Kinder verdient.
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