Kein Wahlplakat kommt derzeit ohne diese sechs Buchstaben aus: EUROPA. Parteien aller politischen Strömungen werben damit, ganz gleich, ob sie "Europa" ablehnen oder befürworten. Ganz gleich auch, ob sie unter Europa die EU und ihre Institutionen oder Europa als geographischen oder kulturhistorisch gewachsenen Raum verstehen. Wir erklären beispielhaft, was unterschiedliche politische Kräfte meinen, wenn sie "Europa" sagen.
Europa als „die Institutionen der EU“
Verfechter der EU sprechen häufig von "Europa, meinen aber oft die "Europäische Union" oder deren Institutionen. Erstes Beispiel: Die "Rede zur Lage der Union" 2018 von Jean-Claude Juncker dauert rund 60 Minuten. 68 Mal verwendete er das Wort "Europa", nur 35 Mal sprach er von "Europäischer Union". Letztgenannter Begriff kommt meist nur dann über die Lippen, wenn es um Verträge der Union mit anderen Staaten geht. "Europa" – das klingt visionärer und emotionaler. Juncker setzt das Wort ein, wenn er von der Geschichte des Kontinents spricht oder davon, dass Europa seine "große Liebe" sei.
Beispiel zwei: die Rede des Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, beim Europaparteitag der CSU. Er spricht fast ausschließlich von "Europa", nicht von der Europäischen Union. Weber ist davon überzeugt, dass "Europa" bedroht ist – unter anderem durch den Brexit. Auch Weber setzt auf Emotionen. Auf seine Partei bezogen sagt er, die CSU trage "Europa im Herzen".
Fazit: "Europa" gilt, ganz anders als "Europäischen Union", als emotional besetzter Begriff, der gut für den Wahlkampf taugt, aber in seiner Bedeutung oft schwammig bleibt. Doch wenn ein Repräsentant der Europäischen Union von "Europa" spricht, sind häufig die Institutionen der EU gemeint oder die Union der – noch – 28 Mitgliedsstaaten.
Europa als Vision einer großen EU
Die EU umfasst derzeit 28 Länder, der Kontinent Europa 50, zumindest laut Definition der Europäischen Kommission. Noch vor zehn Jahren formulierten die deutschen Grünen, "dass alle europäischen Staaten […] eine Beitrittsperspektive erhalten" sollen. Sprich: Jeder Staat, der geographisch zumindest teilweise zu Europa gehört, soll auch zur EU gehören können.
Davon sind die Grünen zurzeit weit entfernt: Die Türkei sei zwar ein wichtiger Partner der EU, ein EU-Beitritt des Landes sei heute "nicht vorstellbar", schreiben die Grünen in ihr aktuelles EU-Wahlprogramm. Das Ziel einer Beitrittsperspektive für alle europäischen Länder - also auch Russland oder Georgien - wurde gestrichen. "Verantwortungsvolle Erweiterungspolitik" nennt die Partei das.
Fazit: Noch vor wenigen Jahren war die Vorstellung einer immer weiter wachsenden EU ein Ziel zahlreicher Parteien, die sich selbst als pro-europäisch verstanden. Heute ist die Vision einer großen EU kaum mehr ein Thema. Sprechen Parteien wie die Grünen von "Europa", können sie sowohl den Kontinent, als auch die EU meinen – sicher aber keine Union mehr, die neue Mitglieder um jeden Preis aufnehmen möchte.
Das Europa der Links- und Rechtspopulisten
Die Europa-Vorstellungen der europäischen Populisten – rechts wie links – sind erstaunlich nah beieinander. Der Parteienzusammenschluss Europäische Linke setzt auf die "Souveränität […] und Solidarität unter den europäischen Völkern". Rechtspopulistische Parteien sprechen immer wieder von einem "Europa der Vaterländer". Unter den Linken geht es um eine vollständige Neugründung der EU auf einer "solidarischen Basis". Darüber hinaus soll sich die EU an Russland annähern, das, so der griechische Ministerpräsident Tsipras, ein "Bestandteil Europas" sei.
Auch hier ähneln sich die Ansichten der Populisten von links und rechts. Auch die deutsche AfD sucht die Nähe zu Russland. Umgekehrt schwebt dem russischen Präsident Wladimir Putin seit Jahren eine gemeinsame Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok vor. "Eurasien", wie diese Utopie auch genannt wird, also ein Verschmelzen Europas mit dem russischen Teil Asiens spielt eine essentielle Rolle in den Schriften des neurechten Philosophen Alexander Dugin, der in der gesamten europäischen Rechten wahrgenommen wird.
Sprechen Rechtspopulisten positiv von Europa, so beziehen sie sich in der Regel auf starke Nationalstaaten und homogene Bevölkerungsgruppen. Deshalb sind die Begriffe der "Freiheit" und der "Souveränität" der Nationalstaaten für Populisten aller politischen Richtungen von großer Bedeutung. Die EU ist für sie ein supranationales Konstrukt sogenannter "Machteliten" und deshalb ein Feind nationalstaatlicher Souveränität.
Fazit: Wenn das Wort "Europa" im Kontext von "Souveränität" und "Freiheit" der Nationen fällt, geht das häufig mit Forderungen nach einem mehr oder weniger fundamentalen Rückbau der EU einher. "Europa" als geographischer und kulturgeschichtlicher Raum autonomer Staaten gilt vor allem rechtspopulistischen Parteien in der EU als bewahrenswerte Idee. Europäische Integration wird in der Regel abgelehnt.