Die Verantwortung und Sorge, die dieser Tage auf den Schultern von Wolodymyr Selenskyj lasten, sind dem ukrainischen Präsidenten anzusehen: Mit tiefen Schatten unter den Augen spricht er am Dienstag in einer Videoschalte vor dem Europaparlament.
Seine Worte sind jedoch klar, die Botschaft an die Mitglieder des Parlaments dringlich: Er fordert die unverzügliche Aufnahme seines Lands in die Europäische Union. "Wir haben bewiesen, dass wir zumindest genauso sind wie Sie. Also beweisen Sie, dass Sie uns nicht im Stich lassen", bittet er die Parlamentarier. "Beweisen Sie, dass Sie wirklich Europäer sind. Dann wird das Leben gewinnen über den Tod."
Selenskyj: Ukraine zahlt hohen Preis für die Freiheit
Im Saal, wo sich die vielen blau-gelben Flaggen und Anstecker gar nicht zählen lassen, herrscht während der Ansprache des Präsidenten Stille. Selenskyj schildert das Leid, das sein Volk in den vergangenen Tagen erlebt habe, betont, vor welcher existentiellen Bedrohung das Land gerade stehe. Die Ukraine zahle einen hohen Preis für den Wunsch nach Freiheit, so der Präsident. Er spricht von Marschflugkörpern, die am Morgen die Stadt Charkiw getroffen haben, von toten Kindern und verängstigten Zivilisten.
Selenskyj lobt den Mut seiner Landsleute: "Ich denke, dass wir am heutigen Tag unser Leben lassen für die Werte, für die Rechte, für den Wunsch, genauso frei zu sein, wie Sie frei sind." Die Ukraine müsse daher als gleichberechtigtes Mitglieds Europas angesehen werden. "Ich möchte gerne von Ihnen hören, dass die ukrainische Wahl für Europa eine gegenseitige ist."
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Auch der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk richtet sich mit eindringlichen Worten an das Europaparlament und an die Welt: Europa sei ohne die Ukraine undenkbar, betont er. Nach beiden Reden ertönt im Parlament tosender Applaus.
Abstimmung über Status als EU-Beitrittskandidat
Auf der Sondersitzung will das Parlament über eine Entschließung abstimmen, die, laut den Befürwortern, ein politisches Signal für eine mögliche Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union aussenden soll. Der Beitritt zur EU ist normalerweise kompliziert und langwierig.
Um der Ukraine den Status als Beitrittskandidaten zuzubilligen, wäre ein einstimmiger Beschluss der 27 Mitgliedstaaten nötig. EU-Ratspräsident Charles Michel hatte am Montag auf die "unterschiedlichen Meinungen und Befindlichkeiten" der EU-Staaten verwiesen. Zuletzt hatten vor allem Ost-Länder wie Polen und Slowenien eine Beitrittsperspektive für die Ukraine verlangt. Andere hingegen warnen davor, den Konflikt mit Russland in die EU und in die Nato zu holen.
So sieht es etwa die Linken-Fraktion im Europaparlament. Sie warnt in einem Änderungsantrag davor, dass der Status der Ukraine als Beitrittskandidat "zu einer weiteren Eskalation der Spannung in Richtung eines umfassenden Krieges" führen könnte. Sie ruft die EU-Organe deshalb dazu auf, "zunächst die friedliche Beilegung der aktuellen Krise und aller bestehenden territorialen Streitigkeiten" abzuwarten.
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