Die Geister der Vergangenheit: Sie können einen verfolgen, quälen, liebevoll umarmen. Oder, wie im Fall von Adam, lähmen. Der Mittvierziger ist Drehbuchautor, sein aktuelles Projekt soll von seinen Eltern handeln. Als er elf Jahre alt war, sind sie bei einem Unfall gestorben. Der Verlust prägt ihn bis heute: Adam hat Bindungsängste. Er lebt allein, sein Hochhaus-Appartement versprüht den Charme eines Hotelzimmers, ist ein Spiegel seines freudlosen Innenlebens.
Der Blick auf die in der Ferne leuchtende Londoner Skyline ist nicht verlockend, sondern tägliche Bestätigung darin, dass sichere Distanz und Selbstisolation seelischen Schmerz verhindern. Eine Taktik, die jahrzehntelang funktioniert hat – jetzt aber dazu führt, dass Adam auf einen leeren Monitor starrt und mit einer Schreibblockade kämpft.
Das Szenario, das der britische Filmemacher Andrew Haigh zu Beginn seines Dramas "All Of Us Strangers" zeichnet, ist beklemmend und ungemein dicht. Innerhalb weniger Minuten vermittelt er ein Gefühl für die Hauptfigur Adam, der schweigend durch seine Wohnung streift, flüchtend und suchend zugleich erscheint. Was genau ihn bedrückt, ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar – weder ihm noch dem Publikum. Gemeinsam machen sie sich auf eine metaphysische Reise: Als sich Adam entschließt, seinen lange gemiedenen Heimatort zu besuchen, öffnet sich ein Tor in die Vergangenheit und plötzlich steht er seinen verstorbenen Eltern gegenüber.
Reise in die Vergangenheit
Verwundert, aber nie geschockt folgt Adam der Einladung. Mit kindlicher Neugier betritt er sein Elternhaus, das eingerichtet ist wie früher. Alles atmet den Geist der 80er-Jahre: Die Mutter trägt Dauerwelle, der Vater Schnauzer, aus dem Radio dudelt Popmusik, in Adams Kinderzimmer hängen Poster von Frankie Goes To Hollywood.
Mit jedem Besuch öffnet sich Adam mehr, holt Gespräche nach, die nie stattfinden konnten, lässt Ängste wieder aufleben, die er tief in sich begraben hat. Er hat sein Coming-out, erzählt, warum er als Kind so oft weggerannt ist und geweint hat, obwohl das Familienverhältnis ein Inniges war. Er klagt nicht an, sondern artikuliert, was er lange selbst nicht verstanden hat – und in den von alten Männlichkeitsidealen geprägten 80er-Jahren all zu oft verdrängt wurde.
Regisseur und Drehbuchautor Andrew Haigh, Jahrgang 1973 und selbst homosexuell, thematisiert in seiner freien Adaption eines japanischen Romans viel Persönliches. Und dennoch ist "All Of Us Strangers" eine Geschichte mit universellem Kern.
Einsamkeitsstudie ohne Happy End
Es geht um Generationsunterschiede, um Schmerz und Sehnsucht, Verlust und Trauer. Es geht darum, wie die Kindheit unser Leben prägt, wie unbedachte Aussagen dauerhafte Wunden schlagen und das Totschweigen solcher Verletzungen Persönlichkeit und Verhalten prägen können.
Vor allem aber geht es um die verschiedenen Varianten von Liebe. In einem zweiten Handlungsstrang erzählt der Film, wie Adams Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit ihn zum Positiven verändert. Er akzeptiert seine Sexualität, beginnt eine Beziehung mit einem Nachbarn, den er zuvor abgewiesen hat. In den Gesprächen mit dem jüngeren Mann werden erneut Generationsunterschiede deutlich, prallt die Verschlossenheit der 80er auf die Offenheit der Nullerjahre.
Von Geistern, die uns umgeben
"All Of Us Strangers" ergründet auf faszinierende und komplexe Weise die Zwischenmenschlichkeit – und bleibt bis zum Ende eine unkonventionelle Geistergeschichte. Ein klassisches Happy End hat diese hervorragend gespielte und zutiefst emotionale Charakterstudie nicht zu bieten. Dafür jedoch einen Twist, der die vorausgegangene Handlung in ein neues Licht taucht – und wie kaum ein anderer Film in letzter Zeit den Raum öffnet für individuelle Interpretationen.
All Of Us Strangers - Großbritannien/USA 2023, 105 Min., Regie: Andrew Haigh. Mit Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy. FSK ab 12 Jahren.
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