Wartende vor dem Bolschoi-Theater
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Massenansturm auf Weihnachts-Ballett

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Bolschoi-Theater: Aufruhr um Warteschlange bei "Nussknacker"

Bolschoi-Theater: Aufruhr um Warteschlange bei "Nussknacker"

Bei einem Massenansturm auf Karten für die Ballett-Weihnachtssaison in Moskau mussten Krankenwagen anrücken. Die chaotische Kartenvergabe für den viel gefragten "Nussknacker" wird heftig kritisiert, sogar Spitzenpolitiker schalteten sich ein.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es ist für viele Russen offenbar ein alljährliches Ritual, auf das sie keinesfalls verzichten wollen: Am 23. Dezember um 12 Uhr mittags steht im berühmten Moskauer Bolschoi-Theater die diesjährige "Nussknacker"-Wiederaufnahme an, übrigens in einer Fassung von Altmeister Juri Grigorowitsch (96), die sage und schreibe 1966 uraufgeführt wurde. Um Karten zu ergattern, stellten sich hunderte von Ballettfans zwischen Absperrgitter, um eines der begehrten Plastik-Armbänder zu erhalten, die gegen Eintrittskarten eingetauscht werden können.

Nicht jeder schien der tagelangen Tortur gewachsen: Zwei Mädchen brauchten örtlichen Medien zufolge medizinische Hilfe. Es gab demnach viel Unmut, teils auch Aggressionen. So sagten Augenzeugen, sie hätten ihren Platz in der Warteschlange bei einem Toilettengang nur in Begleitung von Bereitschaftspolizisten verlassen dürfen. Das sei "gelogen", meinte dazu ein weiterer Betroffener: Diese Regel habe nur nach 22 Uhr, also nachts, gegolten. Beobachter zeigten sich fassungslos: "Und es handelte sich nicht mal um Freikarten!"

Staatsanwaltschaft eingeschaltet

Die Moskauer hätten sich "wie die Wilden" aufgeführt, bemerkten Tanzfans, während die Nachrichtenagentur TASS unter Berufung auf Sicherheitskreise behauptete, alles sei "organisiert und kontrolliert" von statten gegangen, Alarmmeldungen seien nicht eingelaufen. "Die ersten 150 Leute konnten sich organisieren, aber dann herrschte Chaos und die Schlange wurde zu einem Gedränge, und außerdem waren Provokateure am Werk", schrieb ein St. Petersburger Portal.

Ziel der Unruhestifter sei es wohl gewesen, die Polizei zur Auflösung des Volksauflaufs zu zwingen und damit den Tanzbegeisterten auf den vorderen Plätzen ihre Chance zu nehmen, an Karten zu kommen. Menschen aus dem Gedränge haben sich bei der Staatsanwaltschaft und dem Kulturministerium über die Zustände beschwert und beklagten eine "unsachgemäße Organisation des Vorverkaufs". Auf dem Schwarzmarkt sollen Tickets für bis zu umgerechnet 400 Euro und mehr weggehen.

Sonderschalter für Politiker?

Vermögende Russen lassen sich von Tagelöhnern in der Warteschlange vertreten, politisch einflussreiche Ballettfans können sich angeblich an einem Sonderschalter mit Tickets eindecken, was böses Blut machte. Dazu sagte der Parlamentsabgeordnete und Medienpolitiker Alexander Khinshtein, es gehe beim Sondervertrieb lediglich darum, Karten für "internationale Parlamentarierdelegationen" erwerben zu können, nicht etwa um Privilegien für einheimische Politiker.

Demgegenüber hatte das Portal "Russland kurzgefasst" behauptet, Vertragstexte belegten, dass Politiker noch am Vorstellungstag Ballettkarten für umgerechnet 70 bis 150 Euro erwerben könnten: "An welche Regierungsvertreter Karten abgegeben werden, wird nicht veröffentlicht." Aus dem Parlament sei Bolschoi-Intendant Wladimir Urin gedrängt worden, entweder mehr Vorstellungen anzusetzen oder das Ticketsystem zu modernisieren, was aber gleichermaßen abgelehnt worden sei.

"Moskau ist so"

Das Bolschoi werde von einer "Mafia" regiert, schimpften frustrierte Karteninteressenten und verbreiteten das Gerücht, von den 1.700 Plätzen dürften "Normalsterbliche" nur rund 400 in Anspruch nehmen. Kolumnistin Ekaterina Winokurowa erinnerte an die Warteschlangen der Sowjetzeit, die für viele ältere Russen prägend geworden seien, ebenso wie die damaligen Privilegien für Parteibonzen: "Nein, Leute, so wird es nicht mehr funktionieren." Eine UdSSR 2.0 müsse endlich der Vergangenheit angehören, im Supermarkt akzeptierten russische Konsumenten ja auch keine Wartezeiten mehr. Im Übrigen sei es verräterisch, wenn russische Spitzenpolitiker an Neujahr regelmäßig Fotos posteten, auf denen sie in einer "Nussknacker"-Aufführung zu sehen seien: "Wie sind Sie eigentlich dorthin gekommen?"

Blogger spotteten, die Russen liebten die Kultur offenbar "über alles", aber leider nur an den Festtagen. Ein "hartnäckiges Verbraucherverhalten" treffe auf ein rückständiges Vorverkaufssystem: "Die Menschen leiden darunter, es ist ein Bild wie aus dem Fußball der neunziger Jahren", so ein Kritiker. Der Andrang sei "absichtlich hervorgerufen", mutmaßten Beobachter: "Die Begierde nach dem Rausch war so groß, dass Menschen zu Herdentieren wurden." Leser in St. Petersburg meinten schadenfroh: "Moskau ist so. Da werden sie für eine Nussknacker-Eintrittskarte heimtückisch niedergeschlagen. Und wie sich dann stets herausstellt, ist es nichts Persönliches, sondern rein geschäftlich."

"Schwanensee" weniger begehrt

An Empfehlungen mangelte es nicht: Die einen wollten Tschaikowskis "Nussknacker" von September bis April auf den Spielplan setzen, andere verlangten, Frontkämpfer beim Kartenverkauf zu bevorzugen oder die Ticketpreise einfach zu verdreifachen: "Normale Leute gehen Silvester in die Sauna." Für das Bolschoi seien die Zustände eine "Schande", schließlich sei das Internet vor vierzig Jahren in Betrieb genommen worden, seit vielen Jahren könne man dort Karten erwerben, was beispielsweise in St. Petersburg auch ohne Weiteres funktioniere, etwa für "Schwanensee".

Die Medienmanagerin und Polit-Kommentatorin Alina Schestowskaja fragte sich, welche tieferen psychologischen Ursachen der Moskauer Run aufs Ballett wohl habe: "Als glückliche Besitzerin von zwei Eintrittskarten für den Nussknacker (allerdings für eine Vorstellung im Kremlpalast und erst Mitte Januar) vermute ich, dass die Menschen nicht wegen der Kunst anstehen, sondern wegen eines Theaterwunders, eines Märchens und der Vorfreude auf das neue Jahr. An der Kasse hoffen sie, drei Stunden zu erwerben, in denen sie alles vergessen können. Je mehr Faktoren für Dauerstress vorhanden sind, desto mehr gieren sie nach dem Ballett." Darüber hinaus sei die Inszenierung "klassisch", also ohne Zumutungen wie einem "subjektiven" Blick des Choreographen oder gar aktuellen Anspielungen: "Nur Musik, Tanz, wunderschöne Kostüme, eine vertraute Handlung ohne Intrigen und 'unverfälschte dramatische Bewegung'."

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