David Avnir ist Chemie-Professor an der Hebrew University in Jerusalem. Im Winter 1949 kam er als Baby mit seinen Eltern nach tagelanger Überfahrt aus Europa am Hafen von Haifa an. In seinem Pass steht ein ungewöhnlicher Geburtsort: St. Ottilien. Dort wurde er am 12. Juni 1947 geboren. "Ich bin das Kind Nr. 369 des St. Ottilien Hospitals", sagt David Avnir.
Neubeginn im Kloster
Die Geburtsgeschichte von David Avnir ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Eltern gehören zu den wenigen europäischen Juden, die den Holocaust überlebten. Sie sind nach dem Krieg, wie fast alle überlebenden Juden, über Umwege in der amerikanischen Besatzungszone gelandet. Damals lebten in und um München bis zu 150.000 Juden. Sie waren "Displaced Persons" - Heimatlose.
Eines der größten "DP-Camps" befand sich in Landsberg am Lech. In der nahen Erzabtei St. Ottilien richtete die amerikanische Armee 1945 in einem ehemaligen Lazarett der Wehrmacht ein Krankenhaus ein, das auf die Bedürfnisse jüdischer Patienten spezialisiert wurde. Dort arbeiteten fast ausnahmslos jüdische Ärzte. Es gab eine koschere Küche, um die geistigen und geistlichen Anliegen der Patienten kümmerten sich Rabbiner.
Das Klosterdorf St. Ottilien wurde so zur ersten Anlaufstelle für Überlebende der Shoa und entwickelte sich zu einem kulturellen und politischen Zentrum für den Neubeginn jüdischen Lebens in Deutschland.
Die "Ottilien-Babys"
Im heutigen Ottilienheim gegenüber des Exerzitienhauses wurde eine eigene Geburtsstation eingerichtet. Mehr als 400 Kinder kamen hier bis 1948 zur Welt: die sogenannten Ottilien-Babys, die "Kinder der Stunde Null". "Mir gefällt dieser Teil meiner Geschichte", sagt David Avnir. "Es ist immer ein Gesprächsthema."
Auch David Stopnitzer kam in St. Ottilien zur Welt, am 24. Mai 1946, und auch er wird immer wieder auf seine frühe Kindheit im Kloster angesprochen. Auf die Frage "Ich dachte, Sie sind Jude?" folgen oft längere Gespräche darüber, warum er in einem Benediktiner-Kloster geboren wurde. Auch wenn das historisch nicht ganz korrekt ist, das jüdische Krankenhaus und das Kloster waren zwei getrennte Welten.
Auf der Suche nach der Vergangenheit
"Meine Eltern haben sich in einem von diesen Lagern kennengelernt, wo mein Vater im Männerlager war, meine Mutter im Frauenlager", erzählt David Stopnitzer. "Die haben sich über den Zaun kennengelernt. Nach der Befreiung wusste mein Vater ja, wo sie ist, sie haben sich relativ schnell gefunden und dann Mitte 45 geheiratet und im Mai 46 kam ich."
David Stopnitzers Eltern sind nach München zu einem Onkel gezogen. In der Möhlstraße in Bogenhausen eröffneten sie einen Lebensmittelladen. Ans Auswandern dachten sie nicht und von der Zeit im Kloster erzählten sie ihrem Sohn nie.
Erst ein Kongress, zu dem das Kloster St. Ottilien zusammen mit dem Jüdischen Museum München und Wissenschaftlern der LMU eingeladen hatte, brachte viele der ehemaligen "Ottilien-Babys" dazu, über diesen Teil ihrer Geschichte nachzuforschen. "Ich hatte überhaupt keine Vorstellung, ich wusste zwar, dass es ein Kloster ist. Aber für mich war das ein nebliges Schloss. Das war eine ausgeblendete Zeit, ein Loch", erzählt David Stopnitzer.
Die Dokumentation "Die Kinder der Stunde Null", die erstmals im September 2018 im BR Fernsehen zu sehen war, erzählt diese ganz besondere Geburtsgeschichte und begleitet die beiden Männer zurück an ihren Geburtsort.
Mehr zur Geschichte von David Stopnitzer sehen Sie am 20.10.2021 um 19 Uhr in STATIONEN im BR Fernsehen.