Der russische Parlamentsabgeordnete Alexej Schurawlew möchte am liebsten schon das von Russland besetzte ukrainische Territorium an Bedürftige verteilen, Hektar für Hektar. Vorbild dafür ist ein Programm, mit dem der Kreml versuchte, die Besiedlung des Fernen Ostens anzukurbeln, wo sich das Interesse an vergünstigten Äckern in der dortigen Wildnis bei den Russen allerdings in Grenzen hielt. Allerdings sei die ukrainische Schwarzerde im Unterschied zu Sibiriens Wäldern mit ihrem extremen Klima ja sehr fruchtbar, wandte ein prominenter Blogger ein, und obendrein ließen sich die vom Krieg zerfurchten Territorien für "abgelegene Sommerhäuser" nutzen. Dauerhaft wolle aber wohl kaum ein Russe in den frontnahen Gebieten ansässig werden.
"Hauptthema" Einfrieren der Feindseligkeiten?
Noch wird ungeachtet solcher Fantasien erbittert gekämpft, doch US-Medien wie das Nachrichtenmagazin "Time", der Sender NBC News und das Wirtschaftsblatt "Economist" raunten in den vergangenen Tagen unter Berufung auf nicht genannte "führende Regierungsvertreter" von angeblich geheimen Kontakten "in aller Stille" zwischen Washington und Moskau, bei denen Unterhändler nach einem gesichtswahrenden Ausstiegs-Szenario suchten, also einem baldigen Waffenstillstand. Dabei sei es auch um "sehr grobe Umrisse" der Gebiete gegangen, die die Ukraine möglicherweise opfern müsse. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beeilte sich, die Verhandlungs-Gerüchte einzufangen und hatte in einem Interview mit NBC auch abgestritten, dass der Krieg in einer "Sackgasse" stecke.
Demgegenüber hatte der liberale russische Oppositionspolitiker und mögliche Präsidentschaftskandidat Grigori Jawlinski nach einem überraschenden nächtlichen Treffen mit Putin behauptet, sie hätten ausschließlich über einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine gesprochen. "Wenn das wahr ist, dann ist das Hauptthema auf der Tagesordnung des Kremls das Einfrieren der Feindseligkeiten. Anscheinend können unsere Armee und unsere Wirtschaft den Kriegsspannungen nicht standhalten", kommentierte eines der größten russischen Telegram-Portale den Vorgang. Der kremlnahe Politologe Sergej Markow verwies darauf, dass Jawlinski aus Lemberg stamme und bisher "kein schlechtes Wort" über die ukrainische Regierung geäußert habe. Insofern komme er als "Friedensvermittler" durchaus in Frage: "Putin nahm dies zur Kenntnis, antwortete jedoch mit keinem Wort."
"Putin ist eine Geisel des Krieges"
Die "Posaunen von Jericho" verkündeten bereits den bevorstehenden Waffenstillstand, interpretierte der am Londoner University College lehrende Politologe Wladimir Pastuchow diese Nachrichtenlage. Er kommt allerdings bei seiner Analyse zu einem überraschenden Ergebnis: "Ein Sieg im Krieg ist für das Putin-Regime ebenso zerstörerisch wie eine Niederlage. Es spielt keine Rolle, welche Gebiete erobert werden, nur die Krim, ganz Neurussland [die bisher besetzten Gebiete], die ganze Ukraine. Jeder Sieg ist tödlich. Putin braucht den permanenten Krieg. Wenn es den Krieg nicht mehr gibt, gibt es Putin auch nicht mehr und umgekehrt."
Er persönlich glaube nicht an einen Lichtblick, so Pastuchow: "Die Kernbotschaft aller jüngsten Medien-Leaks lautet: 'Jeder hat den Krieg satt.' Das klingt plausibel, aber es ist gelogen. Es gibt einen, der nicht kriegsmüde ist, und sie haben vergessen, ihn zu fragen."
Jetzt, wo sich die Lage an der Front aus russischer Sicht "stabilisiert" habe, werde Putin "auch nicht im Austausch gegen irgendwelche Gebiete" einen Waffenstillstand anstreben: "Warum? Weil Putin eine Geisel des Krieges ist. Für ihn ist alles in Ordnung, solange sich Russland in einem Krieg befindet – egal welcher Art. Wenn der Krieg unterbrochen wird, geschweige, wenn er endet, rückt die interne politische Tagesordnung in den Vordergrund, und der Wagen der Stabilität gerät sofort ins Schlingern." Pastuchow fühlt sich an das sprichwörtliche "Danaer-Geschenk" erinnert, also das Trojanische Pferd, das sich sinnbildlich auch für Putin als verhängnisvoll erweisen könne.
"Klassisches Sicherheitsdilemma"
Unterdessen kommt der Sicherheitsexperte und Ex-Analytiker der CIA, Peter Schroeder, im US-Fachblatt "Foreign Affairs" zum Ergebnis, dass Amerikas Muskelspiel Putin "eher motiviert als abgeschreckt" habe. Der Westen habe also das genaue Gegenteil des Erhofften erreicht: "Das stellt ein klassisches Sicherheitsdilemma dar: Die Bemühungen der USA, die Sicherheit ihrer Partner an der russischen Peripherie zu verbessern, werden von Moskau als potenzielle Bedrohung für Russland angesehen. Die scharfe Reaktion der USA auf Putins Truppenaufstockung im Frühjahr 2021 scheint der letzte Beweis gewesen zu sein, der ihn davon überzeugt hat, dass er seine Ziele in Bezug auf die Ukraine niemals mit Diplomatie erreichen kann. Künftig könnte Putin zu dem Schluss kommen, dass Demonstrationen amerikanischer Stärke, die Russland abschrecken sollen, Bedrohungen sind, die eine direkte militärische Reaktion Russlands erfordern und beide Seiten an den Rand eines direkten Konflikts bringen."
Schroeder bedauert, dass US-Vertreter immer noch zögerten, sich für Verhandlungen einzusetzen, weil sie keine "Schwäche" zeigen und Putin nicht ermutigen wollten, noch aggressiver vorzugehen. Das hält der Experte mit Hinweis auf seine erwähnte Argumentation für einen Irrglauben. Der ganze Artikel ist somit ein Plädoyer für eine konziliantere Haltung, für mehr Dialog und weniger Säbelrasseln.
"Sie wollen alles wieder so haben wie vorher"
Es ist aufschlussreich, dass mögliche Entkrampfungsbemühungen in russischen Medien ebenso umstritten sind wie in amerikanischen. Da ist die vom Politologen Pastuchow behauptete "Angst" des Regimes vor einem Waffenstillstand tatsächlich zwischen den Zeilen zu erahnen: "Es gibt viele Menschen in unserem Land, die von einem beschämenden Frieden wie den Minsker Vereinbarungen [vom Februar 2015 zur Befriedung der Ostukraine] träumen. Sie wollen alles wieder so haben, wie es vorher war: dass Apple-Geräte wieder ganz offiziell verkauft werden, dass die Grenzen der Europäischen Union für russische Touristen geöffnet werden und dass westliches Kapital in unser Land strömt. Aber der russische Präsident hat seine Position klar zum Ausdruck gebracht: Das alte System der Weltpolitik ist überholt. Die Zeit der Veränderung ist gekommen und es gibt kein Zurück mehr. Wir müssen die Realität akzeptieren und voranschreiten. Russland entfernt sich von der falschen Demokratie, die sie uns aufzuzwingen versuchten."
Rechtsextreme russische "Ultrapatrioten" wie Igor Skurlatow zeigen sich weiterhin schier verzweifelt über die ihrer Meinung nach wankelmütige Haltung des Kremls, der immer noch auf einen Wahlsieg von Donald Trump hoffe: "Wir haben die Ressourcen. Es gibt deutlich mehr von ihnen als beim Feind. Es fehlt noch immer der politische Wille. Wir arbeiten daran, den Kreml davon zu überzeugen, nicht auf Trumps Marsmenschen und andere Wunder zu warten, sondern selbst die Initiative zu ergreifen. Denn Verteidigung ist die Mutter der Niederlage. Das war schon immer so und wird auch immer so sein."
"Es wird eine Offensive geben"
TV-Propagandist Alexander Sladkow stößt ins selbe Horn wie Putin und fühlt sich ausgetrickst: "Wow, wie 'unerwartet', dass der Westen anfing, über Frieden zwischen Russland und der Ukraine zu sprechen. Gleichzeitig fragt niemand Kiew, aber das ist in Ordnung, das ist Kleinkram. Die Frage ist, welche Art von Verhandlungen und Waffenstillstand es geben kann, nachdem wir immer wieder getäuscht wurden."
Im Portal "Nezygar" (320.000 Abonnenten), das sich auf soziologische Analysen und die gesamtrussische Stimmungslage spezialisiert hat, heißt es: "Die Gesellschaft wird jedes Szenario akzeptieren. Die Bürger bevorzugen den Frieden, aber nur zu den Bedingungen Russlands." Mental sei das Land auf ein bis zwei weitere Kriegsjahre vorbereitet, was der russischen Führung einen Vorteil verspreche. Dagegen behauptet das Portal "Russlandtrend" (50.000 Fans), Putin und seine Leute hätten "immer noch keine Antwort" gegeben, warum der Angriffskrieg überhaupt notwendig gewesen sei. In "Expertenkreisen" seien sie zunehmend der Meinung, er diene in erster Linie der Festigung des eigenen Regimes. Damit werde der verbreiteten Unzufriedenheit in der Elite über mangelnde Aufstiegsperspektiven entgegengetreten.
Der prominente Polit-Blogger Andrej Medwedew (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Ex-Präsidenten), hält die Waffenstillstands-Spekulationen für "weißes Rauschen", das keinerlei Bedeutung habe: "Was wir jetzt nicht brauchen, sind Illusionen. Und leere Hoffnungen." Medwedew warnte seine russischen Landsleute davor, über "eine Art Wendepunkt" zu sprechen. Das sei "leider nicht der Fall". Washington werde Kiew nicht im Stich lassen: "Und wir sollten verstehen, dass nichts schnell enden wird. Und höchstwahrscheinlich steht die Winteroffensive der ukrainischen Streitkräfte bevor. Mit welchen Mitteln sie angreifen werden, ist Kiews Problem. Aber es wird eine Offensive geben. Sowie verstärkte Aktivitäten im Hinblick auf Angriffe auf unser Hinterland und Flugplätze. Es ist zu früh, um einen Erfolg, einen Wendepunkt oder ähnliches zu feiern. Wir müssen uns auf neue Herausforderungen vorbereiten. Ohne Illusionen."
"Russland erscheint als Black Box"
Der im Exil lebende Militärexperte Kyrill Michailow vertritt die interessante Ansicht, dass der "erste Krieg" zwischen Russland und der Ukraine längst vorbei ist. Er habe lediglich bis April 2022 gedauert und sei eine Auseinandersetzung "zur Erhaltung der ukrainischen Staatlichkeit" gewesen. Seitdem gehe es nicht mehr um die Existenz der Ukraine an sich, sondern um ihre genauen Grenzen. Wie dieser "zweite" Krieg ausgehe, dazu wollte sich Michailow kein Urteil anmaßen: "Es ist zu bedenken, dass der Siegeswille eine wichtige Rolle spielt, der selbst bei großen und mächtigen Staaten durch einen Zermürbungskrieg versiegen kann. Die Gesellschaft kann der Führung des Landes vermitteln, dass sie es leid ist, den Krieg fortzusetzen. In demokratischen Ländern gibt es Mechanismen dafür. In diesem Sinne erscheint uns Russland, das objektiv eine stärkere Kriegspartei als die Ukraine ist, als Black Box. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, was passieren müsste, damit die russische Gesellschaft sagt, dass sie diesen Krieg nicht länger fortsetzen will. Und wie kann sie das dem Staatsoberhaupt beibringen?"
Übrigens kann Kremlsprecher Dmitri Peskow nicht davon lassen, Putins "Doppelgänger" immer wieder energisch zu dementieren. Es gebe nur einen Präsidenten, bekräftigte Peskow kürzlich zum dritten Mal in zwei Wochen. Die Verschwörungstheoretiker lassen sich davon natürlich nicht von ihrem Glauben abbringen, der für manche längt zur Religion wurde. Allerdings hilft ihnen Putin persönlich hier und da. Als ihn ein Kind fragte, ob er tatsächlich "Putin" sei, antwortete er: "Im Moment ja."
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