Porträt bei einer Videokonferenz in Sotschi am 5. September 2023
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Wladimir Putin

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"Erosion des Regimes": Scheitert Putin an seinem Misstrauen?

Die russische Armee habe aus Rückschlägen gelernt, argumentieren US-Militärexperten, sie werde jedoch an einem "strukturellen Problem" scheitern: Grundlage jeder funktionierenden Kommandostruktur sei Vertrauen - und das sei im Kreml nicht vorhanden.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Den Russen geht es besser" heißt es in der Überschrift eines Artikels im Fachblatt "Foreign Affairs" von Margaret Konajew und Owen J. Daniels, doch der Titel führt etwas in die Irre. Tatsächlich sei es Putins Truppen nach vielen Rückschlägen gelungen, der Ukraine einen "zähen, brutalen und harten" Kampf zu liefern, so die Autoren: "In den ersten sechs bis neun Monaten des Konflikts schien der Kreml aus seinen Fehlern nichts zu lernen. Doch seitdem haben die russischen Streitkräfte ihre Kampftaktiken verbessert – wenn auch langsam und unter großem Einsatz von Menschenleben und Ressourcen." Zwar fehle es an Munition, viele Panzer seien vernichtet, die Soldaten seien "müde", doch bei der elektronischen Kriegsführung habe Moskau zum Beispiel Erfolge vorzuweisen: "So angeschlagen und ineffizient das russische Militär auch ist, es ist immer noch lern- und anpassungsfähig. Dieser Prozess war langsam, schmerzhaft, teuer und umständlich – aber er findet statt und zeigt Ergebnisse."

"Starre und zerfaserte Befehlsstrukturen"

Trotz dieser Lernkurve gebe es ein zentrales Problem, das Putin nicht gelöst habe, nämlich den Informationsaustausch. Das gelte sowohl für die einzelnen Ebenen untereinander, als auch für die Befehlsketten von oben nach unten, die nicht in "Echtzeit" funktionierten. Das führe dazu, dass sich Einheiten im Fall des Falles gegenseitig nicht unterstützen könnten: "Das ist kein technischer Fehler oder ein bürokratisches Hemmnis. Es handelt sich vielmehr um ein tiefgreifendes strukturelles Problem, das ohne eine systematische Neuaufstellung des russischen Militärs und vielleicht sogar des politischen Systems wahrscheinlich nicht gelöst werden kann. Eine militärische Befehls- und Kontrollkultur fußt auf Vertrauen, und die Streitkräfte autoritärer Regime wie dem in Russland verfügen häufig über starre und zerfaserte Befehls- und Kontrollstrukturen, weil die politische Führung der militärischen Führung nicht vertraut und die militärische Führung den Untergebenen und den von ihnen gelieferten Informationen nicht vertraut."

"Jeder prangert jeden an"

Solche Systeme seien weder zur erfolgreichen Kommunikation in der Lage, noch ermutigten sie die Beteiligten zur Eigeninitiative oder ermöglichten es, dass unmittelbare Erfahrungen von der Front in strategische Entscheidungen und die "Militärdoktrin" einflössen. Diese strukturellen Mängel seien "Teil der DNA des russischen Militärs". Sie erklärten, warum Putins Generäle nach Erfahrungen in Tschetschenien und Syrien immer wieder bei null anfingen: "Das russische Militär lernt und passt sich auf seine eigene Art und Weise an, aber es bleibt abzuwarten, ob es zu echten transformativen Veränderungen fähig ist." Die Ukraine benötige in diesem "Zermürbungskrieg" vor allem Zeit.

Dass Putin seinem Militär misstraut, vor allem seit der Rebellion von Söldnerchef Jewgeni Prigoschin, ist hinlänglich bekannt. Der im lettischen Riga lehrende Politologe Dmitri Oreschkin sagte vor wenigen Tagen in einem Interview: "Putin hat ein System der gegenseitigen Kontrolle aufgebaut, in dem jeder jeden anprangert." Ein Indiz für den wachsenden Argwohn des Präsidenten sei, dass er die russische Nationalgarde mit schweren Waffen ausrüsten lasse. Offenbar wolle er sicher gehen, dass deren Chef, General Wiktor Solotow, mit 69 fast ein Altersgenossen von Putin (70), bei einem möglichen erneuten Aufstand der Truppe zum Gegenschlag in der Lage ist.

Putin: "Generäle gelinde gesagt nicht effektiv"

"Putins Macht beruht darauf, dass jeder über jeden berichtet. Alle diese Generäle betrachten einander als Feinde. Es gibt Menschen, denen sie persönlich vertrauen, aber sie sind sich bewusst, dass sich unter diesen Menschen durchaus auch Agenten anderer Strafverfolgungsbehörden befinden können", so Oreschkin. Dass die russischen Generäle Grund zur ständigen Beunruhigung haben, ist nichts Neues. Putin sorgte dafür, dass ihm verdächtige Top-Militärs entmachtet und an fernen Schauplätzen wie Syrien "entsorgt" wurden, darunter Generalmajor Iwan Popow, der sich in einer Audiobotschaft über den "Verrat" an der Armeespitze beschwert hatte: "Unser Oberbefehlshaber erdolchte uns von hinten und enthauptete die Armee im schwierigsten und angespanntesten Moment auf verräterische und schändliche Weise." Auch General Oleg Surowikin, einst gefeierter Held einer nach ihm benannten Abwehrlinie, wurde festgesetzt und von allen Aufgaben entbunden, weil er verdächtigt wurde, mit Privatarmeebetreiber Prigoschin zu sympathisieren.

Das russische Militär sei wegen "kleiner Rivalitäten" und einer "grassierenden Korruption" chronisch zerstritten, hieß es in einer Analyse von CNN zur schwierigen Lage der Generäle. Putin selbst hatte im vergangenen Juni auf "Etappenhelden" geschimpft, die es in Friedenszeiten in jeder Armee der Welt gebe und die "gelinde gesagt nicht effektiv" arbeiteten. Und schon fast mit einem Unterton von Realsatire hatte der Präsident ergänzt: "Umgekehrt tauchten Menschen auf, die im Schatten zu sitzen schienen, sie wurden weder gesehen noch gehört, aber sie werden dringend gebraucht. Leider sind solche Menschen die ersten, die sterben, weil sie sich nicht schonen, das ist das Problem."

"Nur 39 von 1.300 Generälen haben Kampferfahrung"

Der ukrainische Militärfachmann Juri Fedorenko verwies darauf, dass es rund 1.300 russische Generäle verschiedener Ränge gebe, viele davon deutlich älter als 55 Jahre, die beruflich noch in der Sowjetunion geprägt worden seien: "Die überwiegende Mehrheit von ihnen ist längst nicht mehr rein militärisch tätig (auch wenn sie es einmal waren), sondern ist zu Vertretern einer eigenen Kaste geworden, die vom Militär ebenso weit entfernt ist wie die Mächtigen des Kremls vom russischen Volk als Ganzes." Wirklich "bedrohlich" seien für Kiew nur die wenigen russischen Generäle der jüngeren Generation, die eine gute Ausbildung und echte Kampferfahrung hätten. Fedorenko bezifferte ihre Zahl auf 39 Personen, die zum Beispiel in Syrien im Einsatz gewesen seien.

"Haben Soziologen Antworten?"

Mehrmals hatte sich Putin persönlich im Hauptquartier seines Feldzugs über die Lage informiert, nach Meinung von Militärbloggern, um dem "Strom der Lügen, die der Kreml von der Front" erhalte, Einhalt zu gebieten. Sogar von "Desinformation des Verteidigungsministeriums" gegenüber der politischen Führung war die Rede. Dass Putin sich ständig und überall "betrogen" sieht, wahlweise von der NATO, dem Westen oder seinen eigenen Generälen, sorgte auch in Russland bereits für Hohn und Spott. Die "Moscow Times" zählte nach und kam zum Ergebnis, dass sich Putin nach eigenen Worten allein in diesem Jahr mindestens sieben Mal hintergangen fühlte.

Dazu schrieb ein russischer Blogger ironisch: "Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich Stalin ein Dutzend Mal im Jahr in der 'Prawda" darüber beschwert hätte, dass ihn jemand getäuscht habe. Eine der Grundlagen der Autokratie ist, dass der Autokrat weder von äußeren, noch von inneren Feinden betrogen werden kann. Mit solchen 'Kleinigkeiten' beginnt die Erosion des Regimes." Politologe Alexander Saigin hatte ähnlich amüsiert geschrieben: "Wer kann mir diesen Fimmel [von Putin] erklären? Welchen Sinn hat es, dieses Mantra immer wieder zu wiederholen, und wird es von der Gesellschaft wirklich akzeptiert? Haben Soziologen Antworten?"

Das erinnert an eine Anekdote aus den Memoiren des früheren sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow. Der wollte gehört haben, wie Stalin in seinen letzten Jahren mal seufzte: "Ich bin am Ende. Ich traue niemandem, nicht einmal mir selbst." Gesundes Misstrauen sei ja in Ordnung, so Chruschtschow rückblickend, Stalin jedoch habe unter der Zwangsvorstellung gelitten, jeden beseitigen zu müssen, dem er nicht mehr traute: "Wir alle, die wir zu Stalins engster Umgebung gehörte, lebten gleichsam auf Abruf."

"Das ist verdammt wichtig"

Wie unfähig der Kreml zur modernen Kommunikation ist, wurde deutlich, als sich Kremlsprecher Dmitri Peskow weitere Nachfragen zum Verbleib des geschassten Generals Surowikin ausdrücklich verbat. Offenbar habe Putin "einfach verboten", unangenehme Themen anzusprechen, vermutete ein Blogger: "Putin soll jetzt wohl überhaupt nicht mehr mit Tabuthemen behelligt werden – schließlich beginnt die Vorwahlzeit [vor der Präsidentenwahl im März 2024]."

Es ist bezeichnend, dass eines der größten russischen Portale für Militärthemen, "Rybar" mit 1,2 Millionen Fans, ausgerechnet den neuen britischen Verteidigungsminister Grant Shapps als leuchtendes Beispiel für eine angemessene Informationspolitik lobte. Der nämlich habe im Fernsehen umgehend den Verlust eines Challenger-Panzers eingeräumt: "Er hat die Fähigkeit, unbequeme Fragen zu beantworten, Verluste einzugestehen und eine scheinbar unangenehme Situation spontan zu seinem Vorteil zu nutzen – das ist es, woran es vielen russische Beamten, Meinungsträgern und den Fans von Berichten nach dem Motto 'Wir werden alle gewinnen' mangelt. Sobald unsere im öffentlichen Leben stehenden Persönlichkeiten diese Fähigkeit erworben haben, werden sie in erster Linie das Vertrauen des eigenen Publikums zurückgewinnen. Und das ist verdammt wichtig."

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